Am ersten Tag - Roman
Jahren in der Nähe von Nazareth vermutlich zum ersten Mal die sterblichen Überreste einer jungen Frau begraben hat? Zu ihren Füßen ruhten die Gebeine eines sechsjährigen Kindes. Die Entdecker dieses Grabes fanden um die beiden Skelette herum zahlreiche Spuren von rotem Ocker. An einer anderen nicht weit entfernten Stelle hat ein Archäologenteam etwa dreißig weitere Gräber derselben Art entdeckt. Jedes Mal waren die Gebeine in Fötusposition, man hatte ihnen rituelle Objekte beigelegt und sie mit Ocker bedeckt. Das sind vielleicht die ältesten Zeichen von Religiosität. War zu dem Schmerz um den Verlust eines geliebten Menschen der unwiderstehliche Drang hinzugekommen, den Tod zu ehren? Ist in ebendiesem Moment der Glaube an eine andere Welt entstanden, in der die Toten weiterleben?
Es gibt so viele Theorien zu diesem Thema, dass wir sicher nie herausfinden werden, zu welchem Zeitpunkt seiner Evolution der Mensch wirklich angefangen hat, an einen Gott zu glauben. Ebenso fasziniert wie eingeschüchtert durch seine Umgebung hat er begonnen, eine Kraft, die er sich nicht erklären konnte, zum Gott zu erheben. Irgendwie musste er der Morgen- und der Abenddämmerung einen Sinn geben, so wie den Sternen am Himmel über ihm, der Magie der wechselnden
Jahreszeiten, den Landschaften, die sich verändern, wie auch sein Körper, bis er schließlich den letzten Atemzug tut. Es ist faszinierend festzustellen, dass all die Höhlenmalereien, die man in rund hundertsechzig verschiedenen Ländern gefunden hat, Gemeinsamkeiten aufweisen. Überall wird rote Farbe verwendet, so als wäre sie das absolute Symbol des Kontaktes zu anderen Welten. Warum sind all diese Menschen, egal wo sie lebten, in betender Haltung, das heißt die Arme dem Himmel entgegengestreckt, dargestellt? Sehen Sie, Keira, meine Arbeiten waren gar nicht so anders als Ihre. Und ich teile Ihre Sichtweise. Mir gefällt der Ansatz Ihrer Forschung. War der erste Mensch wirklich der, der sich aufgerichtet hat, um sich fortzubewegen? War es der, der beschlossen hat, Holz und Stein zu formen, um Werkzeug daraus herzustellen? Oder war es der erste, der den Tod eines Verwandten beweint hat, weil ihm bewusst wurde, dass sein eigenes Ende unausweichlich ist? Der erste, der an ein höheres Wesen geglaubt, oder vielleicht der erste, der seine Gefühle zum Ausdruck gebracht hat? Mit welchen Worten, welchen Gesten oder Gaben hat der erste Mensch erklärt, dass er liebt? Und wem hat er es gezeigt - seinen Eltern, seiner Partnerin, seinen Nachkommen oder einem Gott?«
Keira löste ihre Finger von dem Anhänger, legte beide Hände auf den Tisch und sah den Professor nachdenklich an.
»Die Antwort werden wir wahrscheinlich nie erfahren.«
»Woher wollen Sie das wissen? Alles ist nur eine Frage der Geduld, Willenskraft und Aufgeschlossenheit. Manchmal reicht es aus, auf das Nächstliegende zu blicken, um das zu sehen, was wir in der Ferne nicht erkennen.«
»Warum sagen Sie mir das?«
»Sie haben drei Jahre Ihres Lebens damit verbracht, die Erde auf der Suche nach Fossilien umzugraben, die Ihnen Auskunft
über den Ursprung der Menschheit gewähren sollten. Und sobald wir uns begegnet sind, konnte ich Ihre Neugier und Aufmerksamkeit für das wecken, was Sie um den Hals tragen.«
»Ein seltsamer Vergleich! Es gibt keine Beziehung zwischen diesem Stein und …«
»Es handelt sich weder um Stein noch um Holz, und wir sind außerstande zu sagen, was es ist. Seine Perfektion aber lässt uns daran zweifeln, dass die Natur es so geschaffen hat. Finden Sie meinen Vergleich immer noch derart merkwürdig?«
»Was wollen Sie mir damit sagen?«, fragte Keira und griff erneut nach ihrem Schmuckstück.
»Und wenn Sie nun das, wonach Sie seit Jahren suchen, um den Hals trügen? Seit Sie wieder in Frankreich sind, träumen Sie ständig davon, ins Omo-Tal zurückzukehren, stimmt’s?«
»Ist das so offensichtlich?«
»Das Omo-Tal ruht auf Ihrer Brust, junge Frau. Und vielleicht eines der größten Geheimnisse, das es birgt.«
Keira zögerte kurz und lachte auf.
»Ivory, fast hätten Sie mich reingelegt! Sie waren so überzeugend, dass ich Gänsehaut bekommen habe. Ich weiß, dass ich in Ihren Augen nur eine junge Archäologin bin, die zu spät zu ihren Verabredungen kommt. Aber trotzdem! Es gibt kein Element, das uns suggerieren könnte, dieses Objekt hätte wirklich einen wissenschaftlichen Wert.«
»Ich wiederhole meine Frage: Es ist offenbar sehr viel älter, als wir angenommen
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