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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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das Blatt und entdeckte auf der ersten Seite eine andere, ältere Zeichnung, die ein Objekt darstellte, das in gewisser Weise dem Anhänger ähnelte, den sie normalerweise am Hals trug. Schritte auf dem Flur ließen sie zusammenzucken. Eilig stellte sie alles wieder an seinen Platz und hatte gerade noch Zeit, sich unter dem Tisch zu verstecken, ehe sich die Tür öffnete und jemand eintrat. Keira machte sich klein wie ein ungezogenes Kind und hielt den Atem an. Wenige Zentimeter vor ihr stand ein Mann, sein Hosenbein streifte sie. Dann ging das Licht aus, die Gestalt kehrte zur Tür zurück, ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und es herrschte wieder Ruhe im Büro des alten Professors.
    Keira brauchte einige Minuten, um sich wieder zu fassen. Dann verließ sie ihr Versteck, ging zur Tür und drehte den
Knauf. Glücklicherweise ließ sich die Tür von innen öffnen. Keira lief auf den Gang, stürzte die Treppe zum Erdgeschoss hinab, rutschte unten aus und fiel der Länge nach hin. Eine helfende Hand streckte sich ihr entgegen. Als Keira den Kopf hob und Ivory sah, stieß sie einen Schrei aus, der durch das ganze Foyer hallte.
    »Haben Sie sich so wehgetan?«, fragte der alte Professor und kniete sich neben sie.
    »Nein, es war nur der Schreck.«
    Die Besucher, die stehen geblieben waren, um die Szene zu beobachten, lachten.
    »Das verstehe ich bei einer solchen Rutschpartie! Sie hätten sich sämtliche Knochen brechen können. Warum hatten Sie es denn so eilig? Sie sind zwar etwas verspätet, aber deshalb hätten Sie doch nicht Kopf und Kragen riskieren müssen.«
    »Tut mir leid«, sagte Keira und erhob sich.
    »Wo waren Sie überhaupt? Ich hatte am Empfang eine Nachricht hinterlassen, dass ich Sie im Garten erwarte.«
    »Ich bin direkt hinaufgegangen, um Sie in Ihrem Büro abzuholen. Doch die Tür war abgeschlossen, und so bin ich losgesaust, um Sie zu suchen.«
    »Solche Missgeschicke passieren, wenn man zu spät kommt. Gehen wir, ich sterbe vor Hunger, in meinem Alter ist man an feste Essenszeiten gewöhnt.«
    Erneut fühlte sich Keira wie ein auf frischer Tat ertapptes Kind.
    Sie nahmen am selben Tisch Platz wie beim letzten Mal. Ivory vertiefte sich ganz offensichtlich übelgelaunt in die Karte.
    »Die Küche könnte ruhig etwas abwechslungsreicher sein, immer dasselbe. Ich empfehle Ihnen das Lamm, das ist noch das Beste. Zweimal Lammkeule«, bestellte Ivory bei der Kellnerin.

    Der Professor breitete seine Serviette auf den Schoß aus und musterte Keira eine Weile lang.
    »Ach, ehe ich es vergesse«, sagte er und zog den Anhänger aus der Tasche seines Jacketts. »Ich gebe Ihnen Ihr Eigentum zurück.«
    Keira griff nach dem Stein und betrachtete ihn lange. Dann löste sie die Lederschnur von ihrem Hals und wickelte sie um den Anhänger, wie Harry es ihr gezeigt hatte - zweimal vorne, einmal hinten gekreuzt.
    »Ich muss zugeben, dass er an Ihrem Hals besser zur Geltung kommt«, meinte Ivory und lächelte zum ersten Mal.
    »Danke«, antwortete Keira ein wenig verlegen.
    »Ich hoffe, Sie werden nicht meinetwegen rot. Also, warum waren Sie verspätet?«
    »Es ist mir peinlich, Professor. Ich könnte irgendetwas erfinden, eine Entschuldigung, aber die Wahrheit ist, dass ich nicht rechtzeitig aufgewacht bin, so einfach ist das.«
    »Wie ich Sie beneide!«, rief Ivory und lachte. »Mir ist es seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr gelungen auszuschlafen. Altern ist nicht lustig, und als wäre das nicht genug, werden die Tage immer länger. Aber Schluss mit dem Geschwätz, ich bin nicht hier, um Sie mit meinen Schlafproblemen zu langweilen. Ich mag Leute, die die Wahrheit sagen, darum sei Ihnen diesmal verziehen. Ich werde aufhören, diese verärgerte Miene aufzusetzen, deretwegen Sie sich so verlegen fühlen!«
    »Ach, war das Ihre Absicht?«
    »In der Tat.«
    Nach einer kurzen, verlegenen Pause fragte Keira, die mit dem Anhänger an ihrem Hals spielte:
    »Die Tests haben also nichts ergeben?«
    »Leider nicht.«
    »Und Sie haben keine Ahnung, wie alt der Stein ist?«

    »Nein …«, gab der Professor zurück und wich Keiras Blick aus.
    »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
    »Raus damit!«
    »Was haben Sie unterrichtet?«
    »Religion! Aber nicht in dem Sinn, wie Sie es sich vorstellen. Ich habe mein Leben der Überlegung gewidmet, in welchem Entwicklungsstadium der Mensch begonnen hat, an ein höheres Wesen zu glauben und es ›Gott‹ zu nennen. Wussten Sie, dass der Homo sapiens vor etwa hunderttausend

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