Am ersten Tag - Roman
denn, dass ich es nicht gerade verlassen habe? Los, steig ein, ich sehe im Rückspiegel schon einen Bus kommen, gleich fängt er zu hupen an.«
Keira ließ sich nicht länger bitten, öffnete die Tür und setzte sich neben Max.
»Quai Branly, Musée des Arts et Civilisations, und beeilen Sie sich, ich bin sehr spät dran.«
»Kriege ich trotzdem einen Kuss?«
Doch wie Max vorhergesagt hatte, hupte es schon laut hinter ihnen, und der Bus fuhr fast auf ihre Stoßstange auf. Max legte den ersten Gang ein und machte schnell die Spur frei. Der Verkehr war dicht, und Keira, den Blick auf die Uhr am Armaturenbrett geheftet, bebte vor Ungeduld.
»Du scheinst es eilig zu haben!«
»Ich bin zum Mittagessen verabredet und schon eine Viertelstunde zu spät dran.«
»Wenn es sich um einen Mann handelt, bin ich sicher, dass er auf dich warten wird.«
»Ja, es ist ein Mann, und fang jetzt bitte nicht damit an, er ist doppelt so alt wie du.«
»Du hast immer ein Faible für reife Männer gehabt!«
»Wenn das zutreffen würde, wären wir beide nicht zusammen gewesen.«
»Eins zu null für dich. Wer ist es?«
»Ein Professor.«
»Was unterrichtet er?«
»Merkwürdig«, meinte Keira, »das habe ich ihn nie gefragt.«
»Ich will ja nicht indiskret sein, aber du durchquerst halb Paris im Regen, um mit einem Professor zu Mittag zu essen, und weißt nicht einmal, was er lehrt?«
»Das ist auch nicht wichtig, er ist ohnehin im Ruhestand.«
»Und warum esst ihr zusammen?«
»Das ist eine lange Geschichte, konzentrier dich auf den Verkehr und sieh zu, dass wir aus diesem Stau rauskommen. Es geht um den Anhänger, den Harry mir geschenkt hat. Ich habe mir lange Gedanken über seine Herkunft gemacht. Dieser Professor hält ihn für sehr alt. Wir haben versucht, seinen Ursprung zu bestimmen, aber ohne Ergebnis.«
»Harry?«
»Max, du gehst mir auf die Nerven mit deinen Fragen. Harry ist nicht mal fünfzehn und lebt in Äthiopien!«
»Das ist etwas jung für einen ernsthaften Konkurrenten. Zeigst du mir diesen Stein?«
»Im Moment habe ich ihn nicht, und ich treffe mich mit dem Professor, damit er ihn mir zurückgibt.«
»Ich habe einen Freund, der sich bestens mit alten Steinen auskennt. Wenn du willst, kann ich ihn bitten, deinen Anhänger zu untersuchen.«
»Ich denke, es lohnt sich nicht, deinen Freund zu belästigen. Ich glaube eher, dieser Professor langweilt sich und sucht etwas Zerstreuung.«
»Falls du es dir anders überlegst, kein Problem. So, auf der Uferstraße ist der Verkehr flüssig, in zehn Minuten sind wir da. Und wo hat Harry den Stein gefunden?«
»Auf einer kleinen vulkanischen Insel im Turkana-See.«
»Vielleicht ein Lavastück?«
»Nein, der Gegenstand ist bemerkenswert perfekt poliert und unglaublich hart. Ich habe nicht mal ein Loch hineinbohren können, der Professor hat es sogar mit einem Diamanten versucht. Damit ich ihn um den Hals tragen konnte, musste ich ihn mit einer Lederschnur umwickeln.«
»Du machst mich neugierig. Ich schlage dir Folgendes vor: Lass uns zusammen zu Abend essen, dann sehe ich mir dein Schmuckstück an. Ich habe zwar vor einigen Jahren den Beruf gewechselt, kenne mich aber noch ganz gut aus.«
»Kein schlechter Versuch, Max! Warum nicht? Aber in den nächsten Tagen bleibe ich bei meiner Schwester. Sie und ich müssen reden. Seit ich zurück bin, habe ich nur auf ihr herumgehackt. Ich habe so manches, um nicht zu sagen vieles, gutzumachen.«
»Mein Angebot gilt für alle Tage der Woche. Wir sind da,
du hast so gut wie keine Verspätung. Die Uhr im Armaturenbrett geht vor …«
Keira gab Max einen Kuss auf die Stirn und stieg schnell aus. Er wollte ihr noch sagen, sie sollte ihn nachmittags anrufen, aber sie rannte schon über den Bürgersteig.
»Tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen«, entschuldigte sich Keira, als sie die Tür öffnete. »Ivory?«
Das Zimmer war leer. Ihr Blick fiel auf ein Blatt Papier, das unter der Schreibtischlampe lag. Die Zeilen waren durchgestrichen, doch sie erkannte eine Reihe von Zahlen, die Worte »Turkana-See« und ihren Vornamen. Weiter unten zeigte eine gut getroffene Skizze ihren Anhänger. Natürlich hätte Keira nicht auf die andere Seite des Schreibtischs gehen, im Sessel des Professors Platz nehmen und schon gar nicht die Schublade vor sich öffnen sollen. Aber sie war nicht abgeschlossen, und als Archäologin war sie von Natur aus neugierig. Sie fand ein altes Heft mit rissigem Ledereinband. Sie legte es neben
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