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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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hatten ihnen zwei Einbäume zur Verfügung gestellt, die jeweils vier Personen aufnehmen konnten. An verschiedenen Stellen würden sie an Land gehen und die Boote tragen müssen, um Wasserfälle zu umgehen.
    Die Dorfbewohner hatten sich am Ufer versammelt. Nur ein kleiner Junge erschien nicht zum Appell. Der Teamchef schloss Keira in die Arme. Er hatte Mühe, seine Gefühle zu verbergen. Dann kletterten die Archäologen an Bord der Pirogen. Die Kinder sprangen ins Wasser und halfen ihnen, die Boote vom Ufer zu entfernen. Die Strömung tat das Übrige und trug sie sanft davon.
    Während der ersten zurückgelegten Meilen sah man die winkenden Hände auf den benachbarten Feldern. Keira war schweigsam und suchte mit den Augen denjenigen, den sie noch einmal zu sehen hoffte. Als der Fluss eine Biegung machte, ehe er sich zwischen zwei hohen Felswänden verlor, schwanden ihre letzten Hoffnungen. Sie waren schon zu weit entfernt.
    »Es ist vielleicht besser so«, murmelte Michel, einer von Keiras französischen Kollegen, der ihr am nächsten stand.
    Sie wollte etwas antworten, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.

    »Er wird zu seinem Leben zurückkehren«, fuhr Michel fort. »Mach dir keine Gedanken. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Ohne dich wäre Harry bestimmt verhungert. Außerdem hat dir der Dorfälteste versprochen, sich um ihn zu kümmern.«
    Plötzlich, als das Boot schon kurz vor der Felsenge war, erschien Harrys Gestalt auf einem winzigen Uferstreifen. Keira sprang auf, und das Boot wäre um Haaresbreite gekentert. Michel stellte das Gleichgewicht wieder her, die beiden anderen Kollegen schimpften. Keira hörte ihre Vorwürfe nicht, sie hatte nur Augen für den Jungen, der da hockte und sie aus der Ferne betrachtete.
    »Ich komme zurück, Harry, ich schwöre es!«, schrie sie.
    Der Junge antwortete nicht. Hatte er sie gehört?
    »Ich habe dich überall gesucht«, brüllte sie, so laut sie konnte. »Ich wollte nicht aufbrechen, ohne dich noch einmal gesehen zu haben. Du wirst mir unendlich fehlen«, fuhr sie schluchzend fort. »Ich schwöre dir, ich komme wieder, du musst mir glauben, hast du verstanden? Ich flehe dich an, Harry, gib mir ein winziges Zeichen, nur um mir zu sagen, dass du mich verstanden hast.«
    Doch der Junge rührte sich nicht und machte nicht die geringste Geste. Bald verschwand seine Gestalt hinter der Biegung des Flusses, und die junge Archäologin sah nicht mehr die Hand des Jungen, die sich zu einem zögerlichen Abschiedsgruß hob.

Plateau der Atacama-Wüste, Chile
    Unmöglich, die Augen zu schließen. Jedes Mal, wenn ich glaube einzuschlafen, fahre ich immer wieder von meinem Lager hoch, mit dem grässlichen Gefühl, ersticken zu müssen. Erwan, ein australischer Kollege, der an diese Höhenluft gewöhnt ist, verzichtet seit seiner Ankunft ganz auf den Schlaf. Er praktiziert Joga und kommt so halbwegs zurecht. Obwohl ich zu einer Zeit, als ich ein lockeres Verhältnis mit einer Tänzerin hatte, zweimal die Woche ein Jogazentrum in der Sloane Avenue aufsuchte, reicht meine Beherrschung dieser Disziplin nicht aus, um die Auswirkungen einer solchen Höhe zu kompensieren. Fünftausend Meter über dem Meeresspiegel sinkt der Sauerstoffgehalt der Luft um vierzig Prozent. Nach wenigen Tagen macht sich die Höhenkrankheit bemerkbar - das Blut wird dickflüssiger, der Kopf schwer, der Verstand verliert seine Logik, die Schrift wird unbeholfen, und die geringste körperliche Anstrengung verbrennt unverhältnismäßig viel Energie. Diejenigen, die schon lange hier arbeiten, raten uns, ein Maximum an Traubenzucker zu verzehren. Für Freunde von Süßigkeiten könnte dieser Ort ein wahres Paradies sein: nicht das geringste Risiko, an Gewicht zuzunehmen, denn kaum aufgenommen, wird der Zucker vom Körper umgesetzt. Allerdings verliert man hier in fünftausend Meter Höhe über dem Meeresspiegel jeglichen Appetit. Ich ernähre mich fast ausschließlich von Schokoladenriegeln.
    Die Hochebene der Atacama-Wüste ist ein Ort außerhalb
der Zeit. Das Chajnantor-Plateau, eine gewaltige trockene Ebene, umschlossen von den Anden. Wäre das Atmen dort nicht so beschwerlich, würde man sich inmitten einer beliebigen Steinwüste wähnen. Hier aber sind wir auf einem der Dächer der Welt; nur dass ringsumher fast nichts mehr von ihr existiert. Keine Flora, keine Fauna, nur Steine und zwanzig Millionen Jahre alter Staub. Die Luft, die man hier mühsam aufnimmt, ist die trockenste auf dem Planeten, zwanzigmal

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