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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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auf, während die jüngeren alles auflasen, was zum Bau neuer Behausungen dienen konnte. Hier stellte sich die Frage von gegenseitiger Hilfe nicht; sie war selbstverständlich; alle packten an, jeder wusste, was er zu tun hatte. Die einen sägten Holz, die anderen suchten Zweige für die Hütten, wieder andere liefen auf die Felder und versuchten, die Kühe und Ziegen, die der Sturm nicht getötet hatte, einzufangen.
    In der zweiten Nacht empfingen die Dorfbewohner die Mitglieder des Archäologenteams und teilten mit ihnen ihr dürftiges Mahl. Trotz der Verzweiflung und der Trauerzeit, die kaum begonnen hatte, wurde getanzt und gesungen, um den Göttern zu danken, die Überlebenden verschont zu haben.
    Die folgenden Tage verliefen ähnlich. Zwei Wochen später trug die Natur zwar noch die Narben der Katastrophe, das Dorf selbst aber schien fast wieder normal. Der Dorfälteste dankte den Archäologen. Keira bat ihn um ein Gespräch unter vier Augen. Die Blicke der Bewohner signalisierten eindeutig, wie wenig sie es schätzten, dass eine Fremde seine Hütte
betrat, der Dorfälteste indes akzeptierte aus Dankbarkeit. Nachdem er die Bitte seines Gastes vernommen hatte, schwor er, bis zu ihrer Rückkehr für Harry, sollte er wieder auftauchen, zu sorgen; im Gegenzug musste sie versprechen, tatsächlich wiederzukommen. Daraufhin gab er ihr zu verstehen, die Unterhaltung sei beendet. Er lächelte, auch wenn Harry sich verstecke, weit könne er nicht sein. In den letzten Nächten hätte ein seltsames Tier, während die Dorfbewohner schliefen, Lebensmittel gestohlen, und die Spuren des Eindringlings hätten Ähnlichkeit mit denen eines Jungen.
     
    Vierzehn Tage nach dem Sturm versammelte Keira ihr Team um sich und kündigte an, es sei Zeit, Afrika zu verlassen. Das Funkgerät war zerstört, sie mussten sich alleine durchschlagen. Zwei Möglichkeiten boten sich ihnen: Sie konnten bis zu dem kleinen Ort Turmi laufen und dort mit etwas Glück ein Fahrzeug auftreiben, das sie in die Hauptstadt im Norden bringen würde. Der Weg nach Turmi war gefährlich, es gab keine Straße im eigentlichen Sinne, man müsste fast klettern, um gewisse Passagen zu überwinden. Die andere Option war, auf dem Fluss stromabwärts zu fahren. Innerhalb weniger Tage würden sie den Turkana-See erreichen. Wenn sie ihn überquerten, würden sie nach Lodwar auf der kenianischen Seite gelangen, wo sich ein kleiner Flugplatz befand. Windige Maschinen versorgten die Region regelmäßig mit Lebensmitteln. Irgendein Pilot würde sich am Ende schon bereit erklären, sie mit an Bord zu nehmen.
    »Der Turkana-See, großartige Idee!«, rief ein Mitarbeiter spöttisch.
    »Möchtest du lieber die Berge raufkraxeln?«, fragte Keira genervt.
    »Vierzehntausend - so viele Krokodile wimmeln in etwa in
deinem rettenden See. Es herrscht eine brütende Hitze, und die Gewitter dort sind die heftigsten auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Angesichts der wenigen Ausrüstung, die uns geblieben ist, können wir uns gleich umbringen. Das ginge schneller und wäre weniger qualvoll!«
    Es gab keine Patentlösung. Keira schlug vor, per Handzeichen abzustimmen. Der Weg über den See wurde einstimmig angenommen, mit einer Ausnahme: Der Teamchef hätte sie zwar gerne begleitet, doch er musste nach Norden zu seiner Familie. Mit Hilfe der Dorfbewohner begannen sie, Proviant für die Reise zusammenzustellen. Der Aufbruch war für den nächsten Tag in aller Frühe geplant.
    Keira konnte nachts nicht schlafen und wälzte sich wohl hundertmal auf ihrem Strohlager hin und her. Sobald sie die Augen schloss, tauchte das Gesicht von Harry vor ihr auf. Sie dachte an den Tag zurück, als sie ihm, auf dem Rückweg von einer Exkursion, etwa zehn Kilometer vom Lager entfernt, zum ersten Mal begegnet war. Harry saß allein vor einer Hütte. Sonst war weit und breit niemand zu sehen, und das Kind starrte sie nur schweigend an. Was tun? Einfach weiterlaufen, als wenn nichts wäre? Sie hockte sich neben ihn, und er sagte weiterhin kein Wort. Als sie den Kopf durch die Tür der ärmlichen Behausung steckte, entdeckte sie seine Mutter, die gerade gestorben war. Sie fragte den Jungen, ob er Verwandte hätte, einen Ort, wohin sie ihn bringen könnte, doch sie erhielt keine Antwort: kein Klagen, nur diesen durchdringenden Blick. Keira blieb lange neben ihm sitzen, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich stand sie auf und setzte ihren Weg fort. Sie hatte die ganze Zeit den Eindruck, dass er ihr in einigem

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