Am ersten Tag - Roman
Abstand folgte und sich jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, rasch versteckte. Kurz vor dem Lager aber war keine Spur mehr von ihm zu sehen, und sie glaubte schon, er sei umgekehrt. Als der
Teamchef am nächsten Morgen bekannt gab, es seien Lebensmittel gestohlen worden, war Keira geradezu erleichtert.
Es dauerte lange Wochen, bis sich die beiden wiedersahen. Keira hatte angeordnet, man möge nachts in der Nähe ihres Zeltes stets einen Teller mit Essen und etwas zu trinken hinstellen. Und jeden Abend protestierte der Teamchef, dies sei der beste Weg, um Raubtiere anzulocken. Doch derjenige, den Keira zähmen wollte, hatte nichts von einem wilden Tier, sondern war nur ein verängstigter, einsamer, kleiner Junge.
Je mehr Zeit verstrich, desto öfter dachte Keira über das ungewöhnliche Verhalten des Kindes nach. Abends in ihrem Zelt lauschte sie auf die Schritte dessen, den sie im Geiste schon Harry getauft hatte. Warum gerade dieser Vorname? Sie wusste es selbst nicht, er war ihr wohl im Traum gekommen. Eines Nachts ging Keira das Risiko ein, sich vor die Kiste zu setzen, auf der der Teller für den Jungen stand. Diesmal hatte sie Besteck dazugelegt, und das Ganze ähnelte einem Esstisch, den man mitten im Nirgendwo aufgestellt hätte.
Harry erschien auf dem Pfad, der vom Fluss hinaufführte. Er lief mit hoch erhobenem Kopf, sein Gang war stolz. Als er vor ihr stand, begrüßte ihn Keira mit einer Handbewegung und fing zu essen an. Nach kurzem Zögern nahm er ihr gegenüber Platz, und sie teilten ihr erstes Mahl unter freiem Himmel. Keira brachte ihm die ersten Worte ihrer Sprache bei. Er wiederholte keines, aber am nächsten Tag sagte er beim Essen alle am Vortag gehörten her, ohne auch nur den geringsten Fehler zu machen.
Erst später in diesem Monat zeigte sich Harry am helllichten Tag. Keira war gerade dabei, vorsichtig in der Erde zu graben, in der Hoffnung, endlich etwas Wertvolles zu entdecken, als sich der Junge langsam näherte. Was dann folgte, war äußerst eigenartig. Ohne sich darum zu kümmern, ob Harry sie verstand,
erklärte ihm Keira jede ihrer Handbewegungen, warum es für sie so wichtig war, ohne Unterlass nach diesen winzigen fossilen Fragmenten zu suchen, und dass jedes von ihnen vielleicht von der Entstehung des Menschen auf unserem Planeten zeugen könnte.
Harry kam am nächsten Tag zur selben Stunde zurück und verbrachte diesmal den ganzen Nachmittag an der Seite der Archäologin. Dasselbe wiederholte sich an den folgenden Tagen, und zwar jedes Mal mit beeindruckender Pünktlichkeit - Harry hatte keine Uhr. Die Wochen vergingen, und ohne dass sich jemand dessen wirklich bewusst wurde, verließ der Junge das Lager nicht mehr. Vor jeder Mahlzeit, mittags und abends, ließ er, ohne zu murren, den Sprachkurs über sich ergehen, den Keira ihm erteilte.
In dieser Nacht hätte Keira gerne noch einmal seine Schritte gehört, wie er um ihr Zelt herumschlich und darauf wartete, dass sie ihm erlaubte hereinzukommen. Sie hätte ihm eine der afrikanischen Legenden erzählt, von denen sie so viele kannte.
Wie sollte sie sich morgen auf den Weg machen, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben? Ein Aufbruch ohne ein Wort ist schlimmer als Verlassenwerden, Schweigen ist Verrat. Keira griff nach dem Geschenk, das Harry ihr eines Tages gemacht hatte. An einer Lederschnur, die niemals mehr ihren Hals verließ, hing ein sonderbarer Gegenstand. Er war dreieckig, glatt und hart wie Ebenholz; er besaß auch dessen pechschwarze Farbe, doch war er wirklich aus diesem Material gefertigt? Keira wusste es nicht. Der Gegenstand ähnelte keinem bekannten Stammesschmuck, selbst der Dorfälteste hatte nichts über seinen Ursprung sagen können. Er hatte nur den Kopf geschüttelt; er wisse nicht, worum es sich handele, und vielleicht solle sie ihn besser nicht am Körper tragen. Doch es
war ein Geschenk von Harry … Als Keira ihn nach seiner Herkunft gefragt hatte, hatte der Junge erklärt, er habe ihn auf einer kleinen Insel mitten im Turkana-See gefunden. Er sei mit seinem Vater in den Krater eines vor Jahrhunderten erloschenen Vulkans gestiegen, wo es den fruchtbaren Schlamm gab, und dort habe er diesen Schatz entdeckt. Keira legte ihn zurück auf ihre Brust, schloss die Augen und suchte vergebens den Schlaf.
Im Morgengrauen packte sie ihre Habseligkeiten zusammen und weckte ihre Kollegen. Eine lange Reise stand ihnen bevor. Nach einem kärglichen Frühstück machte sich die Mannschaft auf den Weg. Die Fischer
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