Am ersten Tag - Roman
Schweigen.
»Du wirst mich verlassen, wirst gehen, stimmt’s?«, fragte er schließlich.
»Ich habe keine Arbeit mehr.«
»Du könntest helfen, das Dorf wieder aufzubauen. Alles ist zertrümmert. Die Leute hier haben euch auch geholfen.«
»Ja, das können wir für ein paar Tage, im Höchstfall ein paar Wochen tun. Dann aber, du hast recht, müssen wir gehen.«
»Warum denn? Du bist hier doch glücklich, oder?«
»Mehr als je zuvor.«
»Dann musst du bleiben!«, beharrte Harry.
Der Teamchef gesellte sich zu ihnen, und Keira bedeutete dem Jungen, dass er sie jetzt allein lassen sollte. Harry entfernte sich einige Schritte.
»Geh nicht zum Fluss!«, rief sie.
»Das kann dir jetzt doch egal sein, wo du weißt, dass du gehen wirst!«
»Harry!«, rief Keira flehend.
Doch der Junge lief schon in die Richtung, die sie ihm verboten hatte.
»Sie geben die Ausgrabung auf?«, fragte der Teamchef überrascht.
»Ich fürchte, wir haben bald keine andere Wahl mehr.«
»Warum sich so entmutigen lassen? Man muss sich nur wieder an die Arbeit machen. An gutem Willen fehlt es hier schließlich nicht!«
»Leider ist es nicht nur eine Frage des guten Willens, sondern auch der Mittel. Wir haben fast kein Geld mehr, um unsere Leute zu bezahlen. Meine einzige Hoffnung war, rasch etwas zu finden, um weitere Zuschüsse zu bekommen. Ich fürchte, wir sind bald arbeitslos.«
»Und der Kleine? Was soll aus ihm werden?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Keira niedergeschlagen.
»Sie sind seine einzige Bezugsperson, seitdem seine Mutter gestorben ist. Warum nehmen Sie ihn nicht mit?«
»Dazu fehlt mir jede Berechtigung. Er würde an der Grenze festgehalten, für Wochen in ein Lager gesteckt, um dann hierher zurückgeschickt zu werden.«
»Und ausgerechnet in Ihrem Land hält man uns für unzivilisiert!«
»Könnten Sie sich nicht um ihn kümmern?«
»Ich habe so schon Mühe, meine Familie durchzubringen, und meine Frau wird nicht bereit sein, ein weiteres Maul zu stopfen. Außerdem ist Harry ein Mursi, er gehört den Völkern des Omo an, und wir sind Ambara, das würde alles noch schwieriger machen. Sie, Keira, haben seinen Vornamen geändert und ihn in den letzten drei Jahren Ihre Sprache gelehrt.
Sie haben ihn sozusagen adoptiert. Sie sind für ihn verantwortlich. Er darf nicht ein zweites Mal verlassen werden; das würde er nicht verkraften.«
»Wie hätte ich ihn denn nennen sollen? Ich musste ihm doch einen Vornamen geben. Er sprach kein Wort, als ich ihn aufgenommen habe!«
»Statt uns jetzt zu streiten, sollten wir lieber nach ihm suchen. Bei dem Gesicht, das er eben gemacht hat, wird er so schnell nicht wieder auftauchen.«
Keiras Kollegen versammelten sich um die Ausgrabungsstätte. Die Stimmung war bedrückend. Jedem wurde das Ausmaß der Zerstörung klar. Alle wandten sich Keira zu und warteten auf Instruktionen.
»Schaut mich nicht so an, ich bin nicht eure Mutter!«, rief die Archäologin aufgebracht.
»Wir haben all unsere Sachen verloren«, protestierte ein Mitglied des Teams.
»Es gibt Tote im Dorf, ich habe drei Leichen im Fluss gesehen«, erwiderte Keira. »Da interessiert mich dein Schlafsack wirklich nicht.«
»Wir müssen so schnell wie möglich ihre sterblichen Überreste begraben«, meinte ein anderer. »Wir können zusätzlich zu unseren Problemen nicht noch eine Choleraepidemie gebrauchen.«
»Freiwillige?«, fragte Keira zweifelnd.
Niemand hob die Hand.
»Dann lasst uns alle gehen«, befahl sie.
»Wir sollten warten, bis ihre Familien sie holen. Wir müssen ihre Traditionen respektieren.«
»Der Shamal hat auch nichts respektiert. Lasst uns handeln, bevor das Flusswasser verseucht ist«, beharrte Keira.
Die Gruppe setzte sich in Bewegung.
Die traurige Aufgabe nahm den Rest des Tages in Anspruch. Die Leichen wurden aus dem Schlamm gezogen, Gräber in gebührendem Abstand zum Ufer ausgehoben und am Ende mit einem kleinen Steinhaufen bedeckt. Jeder betete auf seine Art, nach seinem Glauben und dachte an diejenigen, mit denen er in den vergangenen drei Jahren zu tun gehabt hatte. Bei Einbruch der Dunkelheit versammelten sich die Archäologen um das Feuer herum. Die Nächte waren kühl, und es blieb ihnen nichts mehr, um sich vor der Kälte zu schützen. Einer übernahm die Nachtwache, während die anderen in der Nähe der Glut schliefen.
Am nächsten Morgen kam das Team den Dorfbewohnern zu Hilfe. Die Kinder waren versammelt worden. Die älteren Frauen des Stammes passten auf sie
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