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Am ersten Tag - Roman

Am ersten Tag - Roman

Titel: Am ersten Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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hat, scheinen die Völker des Omo-Tals noch darin zu leben.
    Alle Dorfbewohner kamen ihnen entgegengelaufen. Inmitten derer, die tanzten, um ihre Freude kundzutun, suchte Keira
nur ein Gesicht. Sie hätte es unter Hunderten erkannt - selbst unter einer Maske aus Ocker und Lehm -, doch Harry war nicht zur Begrüßung erschienen.

Hydra
    Um Punkt neun Uhr hörte ich von draußen die Schreie eines Esels. Meine Mutter öffnete die Haustür und empfing Walter. Sein Anzug hatte deutlich gelitten.
    »Er ist drei Mal runtergefallen, dabei habe ich ihm das sanfteste meiner Tiere zugeteilt!«, meinte Kalibanos seufzend und machte sich verärgert, seinen Auftrag nicht perfekt ausgeführt zu haben, auf den Rückweg.
    »Man kann sagen, was man will«, protestierte Walter, »aber mit den Pferden Ihrer Majestät hat das hier nichts zu tun. Keine Haltung in den Kurven, keine Disziplin.«
    »Was sagt er da?«, flüsterte Elena.
    »Er mag unsere Esel nicht«, antwortete meine Mutter und führte uns auf die Terrasse.
    Walter machte ihr tausend Komplimente über ihr Dekor und versicherte, noch nie etwas so Gelungenes gesehen zu haben. Er bewunderte ausgiebig den Boden aus Kieselsteinen. Bei Tisch befragte ihn Elena unermüdlich über seine Arbeit an der Akademie und wie wir Bekanntschaft gemacht hatten. Bis zu diesem Tag hatte ich nichts vom diplomatischen Geschick meines Kollegen geahnt. Während des ganzen Essens lobte er die Kochkunst meiner Mutter. Beim Dessert fragte er sie, wie sie meinen Vater kennengelernt hätte. Bei diesem Thema war meine Mutter unerschöpflich. Elena fröstelte in der frischen Abendluft. Also verließen wir die Terrasse und nahmen im Salon Platz, um den weißen Kaffee zu trinken, den meine
Mutter so meisterhaft zuzubereiten verstand. Mit Erstaunen entdeckte ich auf der Konsole neben dem Fenster Keiras Anhänger, der auf mysteriöse Weise von meinem Nachtkästchen hierhergelangt war. Walter folgte meinem Blick und rief fröhlich:
    »Aber diese Kette kenne ich doch!«
    »Daran hatte ich nicht den geringsten Zweifel«, antwortete meine Mutter und bot ihm Schokolade an.
    Walter begriff nicht, warum meine Mutter das so triumphierend sagte, und auch mir erschloss sich der Grund nicht.
    Elena war müde, und da es zu spät war, um ins Dorf zurückzukehren, schlief sie wie so oft in solchen Fällen im Gästezimmer. Mama zog sich zur gleichen Zeit wie sie zurück, verabschiedete sich von Walter und riet mir, ihn später ins Dorf zu begleiten. Sie fürchtete, er könne sich auf dem Rückweg verirren, doch Walter schwor, das sei nicht nötig. Die Wetterbedingungen nahmen uns die Entscheidung ab.
    Ich habe mich immer darüber gewundert, wie das Zusammentreffen verschiedener kleiner Details den Lauf unseres Lebens beeinflussen kann. Niemand sieht die Puzzle-Teile, die sich unausweichlich zusammenfügen und letztlich zu einer Veränderung führen.
    Nachdem Walter und ich etwa eine Stunde diskutiert hatten, zog vom Meer ein Gewitter auf. Lange schon hatte ich kein solches mehr erlebt. Walter half mir, die Türen und Fenster zu schließen, und wir setzten in aller Ruhe unsere Unterhaltung fort, während draußen der Donner grollte. Walter bei diesem Wetter gehen zu lassen, kam gar nicht in Frage. Da Elena das Gästezimmer besetzte, bot ich ihm für die Nacht das Sofa und eine Decke an. Nachdem ich alles hergerichtet hatte, verabschiedete ich mich von Walter und zog mich zurück. Ich war eigentlich müde genug, um sofort einzuschlafen. Doch das
Gewitter wurde immer heftiger, und selbst mit geschlossenen Augen sah ich, wie die Blitze das Zimmer erhellten.
     
    Walter tauchte plötzlich in Boxershorts und aufgebracht in meinem Schlafzimmer auf. Er schüttelte mich und bat mich eindringlich, auf der Stelle mitzukommen. Zunächst vermutete ich, er hätte eine Schlange entdeckt, doch so etwas hatte es in unserem Haus nie gegeben. Ich musste ihn bei den Schultern fassen, um ihn zum Reden zu bringen.
    »Kommen Sie bitte, Sie werden es nicht glauben!«
    Ich hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Im Salon herrschte Dämmerlicht. Walter führte mich zum Fenster. Ich verstand schnell, warum er so ergriffen war. Bei jedem Blitz, der am Himmel zuckte, verwandelte sich das Meer in einen riesigen Spiegel.
    »Sie haben gut daran getan, mich aus dem Bett zu holen. Ich muss zugeben, es ist ein fantastisches Schauspiel.«
    »Welches Schauspiel?«, fragte Walter.
    »Nun, das, was sich vor unseren Augen abspielt. Haben Sie mich nicht deshalb

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