Am ersten Tag - Roman
»Und ich glaube, er hat nicht ganz unrecht. Lass uns aufhören mit diesen alten Geschichten und lieber von der Zukunft sprechen. Hast du Pläne, Elena?«
Meine Tante sah uns verblüfft an.
»Ich lasse gegen Ende des Monats, das heißt kurz vor Beginn der Saison, die Fassade meines Ladens neu streichen«, verkündete sie schließlich mit todernster Miene. »Das Blau ist zu blass geworden, findet ihr nicht?«
»Doch, doch, das dachte ich mir auch schon, und das ist ein Thema, das Adrianos begeistern wird«, entgegnete meine Mutter und zwinkerte mir zu.
Diesmal fragte Elena, ob wir sie auf den Arm nehmen wollten, und ich schwor ihr hoch und heilig, dass sie sich täuschte. Dann diskutierten wir zwei Stunden über das Blau für ihren Laden. Mama ging so weit, den Farbenhändler aus seinem Mittagsschlaf zu reißen, um sich eine Musterpalette zu holen. Und während wir die verschiedenen Töne an die Wand hielten, um den passendsten auszuwählen, sah ich, wie auch das Gesicht meiner Mutter wieder Farbe bekam.
In den folgenden zwei Wochen lebten wir mit der Sonne, die mir so gefehlt hatte, und der Hitze, die mit jedem Tag zunahm. Der Juni verstrich langsam, und wir sahen die ersten Touristen eintreffen.
Eines frühen Nachmittags - es war ein Freitag, ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen - trat Mama in mein Zimmer, in dem ich las und wo es dank der geschlossenen Fensterläden angenehm kühl war. Ich musste mein Buch zur Seite legen, da sie, die Arme vor der Brust verschränkt, an mein Bett trat. Dabei musterte sie mich wortlos mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.
»Was gibt’s?«
»Nichts.«
»Bist du nur gekommen, um mir beim Lesen zuzusehen?«
»Nein, um dir die Wäsche zu bringen.«
»Aber du hast nichts dabei!«
»Ich muss sie wohl unterwegs vergessen haben.«
»Mama?«
»Adrian, seit wann trägst du Halsketten?«
Wenn mich meine Mutter Adrian nennt, dann hat sie etwas Ernstes auf dem Herzen.
»Spiel nicht den Unschuldsengel!«, fügte sie hinzu.
»Ich habe nicht die entfernteste Ahnung, wovon du sprichst.«
Meine Mutter warf einen finsteren Blick auf die Schublade meines Nachtkästchens.
»Ich spreche von der, die ich in deinem Koffer entdeckt und dort verstaut habe.«
Ich öffnete besagte Lade und fand den Anhänger, den Keira bei mir in London vergessen hatte. Warum hatte ich ihn mitgenommen? Ich wusste es selbst nicht.
»Das ist ein Geschenk!«
»Schenkt man dir neuerdings Halsketten? Und nicht irgendeine. Ein ziemlich originelles Geschenk. Wer war so großzügig mit dir?«
»Eine Freundin. Ich bin seit zwei Wochen hier. Warum interessierst du dich plötzlich für diese Kette?«
»Erzähl mir zunächst mal von dieser Freundin, die einem Mann Schmuck schenkt. Vielleicht höre ich dann auf, mich dafür zu interessieren.«
»Es war nicht wirklich ein Geschenk, sie hat sie bei mir vergessen.«
»Warum erzählst du mir dann, es sei ein Geschenk, wenn es vergessen wurde? Gibt es noch andere Dinge, die du vergessen hast, mir zu sagen?«
»Mama, worauf willst du hinaus?«
»Kannst du mir erklären, wer der verrückte Kerl ist, der mit dem Schiff aus Athen gekommen ist und der alle Händler im Hafen nach dir fragt?«
»Welcher verrückte Kerl?«
»Willst du jetzt auf jede meiner Fragen mit einer Gegenfrage antworten? Das ist auf die Dauer äußerst irritierend.«
»Ich weiß nicht, von wem du sprichst.«
»Du weißt nicht, wem diese Kette gehört, du kannst mir nicht diese Frau beschreiben, die sie dir zunächst geschenkt, sie aber letztendlich bei dir vergessen hat, und du weißt auch nicht, wer dieser Sherlock Holmes in Shorts ist, der im Hafen bereits sein fünftes Bier trinkt und jeden Passanten fragt, ob er dich kennt? Es ist schon das x-te Mal, dass man mich seinetwegen anruft, und stell dir vor, ich weiß nicht, was ich antworten soll!«
»Ein Sherlock Holmes in Shorts?«
»Mit Flanellshorts, Hemd und karierter Schirmmütze. Es fehlt nur noch die Pfeife.«
»Walter!«
»Na bitte, du kennst ihn also!«
Ich schlüpfte schnell in ein Hemd, stürzte zur Tür und flehte den Himmel an, dass sich mein Esel nicht von dem Seil gerissen hatte, mit dem er an den Baum vor dem Haus gebunden
war. Er hatte diese schlechte Gewohnheit vor etwa einer Woche angenommen, um auf die Wiese des Nachbarn zu spazieren und einer Eselin den Hof zu machen, die allerdings von seinen Avancen wenig beeindruckt war.
»Walter ist ein Arbeitskollege. Ich hatte keine Ahnung, dass er uns besuchen
Weitere Kostenlose Bücher