Am Grund des Sees
seinem Sohn befreundet. Ein braver Mann war er, Witwer, arbeitete bei der Eisenbahn. Unsere Blicke begegneten einander, und es war klar, dass er alles mitangesehen und -gehört hatte. Alles, verstehst du? Ich wollte mit ihm reden, aber er wandte sich ab und ging. Und in seiner Miene, in seiner ganzen Haltung lag etwas, das mir klarmachte: Ich habe nichts gesehen, ich will nichts wissen.
Später habe ich erfahren, dass es ein böses Ende mit ihm genommen hat, er wurde depressiv und fing an zu trinken. Und ich dachte: Vielleicht ist er unter dieser Last, alles zu wissen, aber nichts zu sagen, zusammengebrochen. Ich fand es gut, dass du mit Tommaso, seinem Sohn, befreundet warst. Seht ihr euch noch? Wenn nicht: Vielleicht kannst du Kontakt mit ihm aufnehmen? Vielleicht könnt ihr euch gegenseitig eine Stütze sein.
Aber über das alles können wir reden, wenn du mich besuchen kommst.
In herzlicher Zuneigung,
deine alte Freundin Desolina
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Überlebensstrategien
Lugano ist eine Stadt, die auf Metropole macht. Sie hat einen sehr, sehr schmucken See, sie hat ein Geschäftszentrum voller Banken mit blitzenden Marmorfußböden und einem Gürtel aus leicht erschöpft wirkenden Wohnhäusern. Die umliegenden Gemeinden beugen sich ihrer Macht, und Groß-Lugano wächst; aber der See ist wirklich allzu schmuck, und die Fußböden blitzen allzu blank, als dass die Stadt das Zeug zum Asphaltdschungel hätte. Also tut man eben so, als wäre die Nacht auf keinen Fall zum Schlafen da, trägt Sonnenbrille, sitzt in einer Innenstadtbar und bestellt White Russians.
Trotzdem liegen auf den Trottoirs keine Kippen herum. Kein Taxifahrer dreht sich zu einem um und nuschelt mit schiefem Grinsen: An deiner Stelle, Freund, würde ich mich von dieser Gegend lieber fernhalten... Nein, hier nicht. Von wegen Metropole.
Aber es gibt viel Sonne in der schönen Jahreszeit. Es gibt Palmen, ein Kasino und auch eine Handvoll Touristen mit FlipFlops. Und was tut Lugano? Es verkleidet sich als Luxusstädtchen der Edelklasse. Im Gras am Lido liegen tätowierte Pärchen, und in der Spielbank sitzen Damen mit blauen Hüten vor Einarmigen Banditen. Das ist der Sommer, das ist Lugano, das Dame von Welt spielt: halb Nutte und halb Mylady.
An diesem Abend, einem der allerersten Frühlingsabende, war die Stadt noch ein bisschen unentschlossen. Chico Malfanti hatte sich einen White Russian bestellt, und in seiner Hemdtasche steckte, jawohl, ein Päckchen Lucky Strikes. In der Jamaican Bar im Viertel Maghetti trugen die Kellner geblümte Hemden und kreisten mit Hüftschwüngen im Reggae-Rhythmus zwischen den Tischen aus Tropenholzimitat.
Die Bars im Viertel Maghetti begannen den Duft der schönen Jahreszeit zu verströmen. Die Anwohner hingegen vernahmen wieder jene Tonspur, die von nun an ihre Dauerbegleitung sein sollte: jede Nacht bis in die frühen Morgenstunden hinein. Chico, wie immer mit Ramon und Gianca unterwegs, war gespannt auf das Luganer Publikum.
Die drei saßen an einem der niedrigen Tische im Jamaican. Auf der Tischplatte stand eine Duftkerze, und die Wanddekoration bestand aus Tamburinen, Fächern, kleinen Terrakottafiguren und sonstiger Ethnokunst. Wie es der Zufall wollte, hatte sich gleich daneben ein Tross junger Mädchen versammelt, die den Junggesellinnenabschied einer Freundin feierten. Die Ärmste trug ein weißes T-Shirt und musste auf Geheiß ihrer Freundinnen sämtliche anwesenden jungen Männer bitten, ihr an einer freien Stelle einen Kuss aufs T-Shirt zu drücken und mit schwarzem Filzstift zu unterschreiben. Was natürlich nur mit beträchtlicher alkoholischer Unterstützung funktionierte.
Nachdem die besseren Plätze längst vergeben waren, hatte Chico die Braut auf einen noch freien Fleck in der Nähe des rechten Schlüsselbeins geküsst. Dabei war ihm eine ihrer Freundinnen ins Auge gefallen, eine von den besonders ausgelassenen.
Urplötzlich hatte der Abend einen Sinn bekommen. Chico lehnte sich entspannt zurück und sagte zu Gianca: »Nicht schlecht hier, oder?«
Gianca knurrte Unverständliches, und Chico ließ seinen White Russian im Glas kreisen.
Die drei waren bereit zur Tat. Während Ramon mit der Braut herumalberte, griff Gianca einige angesäuselte Schönheiten von der Flanke her an. Chico indes steuerte direkt auf sein Ziel zu. Das Mädchen, erfuhr er, hieß Tecla, und sie trug das gleiche T-Shirt wie die Braut, allerdings autogrammlos und ungeküsst. Es gab den Bauchnabel frei und verbarg auch recht
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