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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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nicht. Glauben Sie wirklich, daß all die Männer, die diese Sachen konsumieren, Perverse sind?
    Loos schaute auf die Uhr, trank, zog an seiner Zigarette. Dann sagte er: Nicht das geringste spricht dagegen. Ich habe gestern abend schon erklärt – vergeblich allerdings, wie ich jetzt sehe –, daß das, was massenhaft gedacht und praktiziert wird, allmählich als normal, ja als natürlich gilt, auch wenn es noch so pathologisch, noch so verbogen oder primitiv ist. Ich möchte einen Satz zitieren, der mir im Kopf geblieben ist, weil mich, als ich ihn hörte, ein Grauen überkam. Er stammt aus dem erwähnten Hotelzimmerfilm, er stammt aus dem Mund einer Frau und ist oder war an ihren agierenden Partner gerichtet. Du fickst wie eine Maschine, hat sie ihm zugerufen, und sie hat es als anspornendes Lob gemeint. Wenn Männer oder Frauen wirklich davon träumen sollten, wenn sie sich wirklich wünschten, einander auf so rohe Weise abzufertigen – müßte man diese Träume und Wünsche dann nicht als pervers bezeichnen? – Sie sind ein Meister im Finden von Extrembeispielen, sagte ich. Mir ist es aber, wenn ich mich wiederholen darf, nur ums Prinzip gegangen. Der Trieb heißt Trieb, weil er uns dazu treibt, uns ohne Aufschub mit dem begehrten Objekt zu paaren. Und ohne Aufschub heißt auch: ohne moralische Bremse, ohne Hemmung, ohne Scham. Das ist ein purer Naturwunsch. Im Pornofilm setzt er sich triumphierend durch, und das macht ihn so reizvoll.
    Einen Naturwunsch hätte ich auch, sagte Loos, mein Glas ist leer, bestellen wir noch einen? – Ohne Aufschub, sagte ich, nur wird es mit dem Fahren wieder kritisch werden. – Notfalls laufen wir wieder, sagte er. Und unvermittelt fuhr er fort: Als ich ein Jüngling war, bedurfte es nur einer braven BH-Reklame in einer Schwarzweiß-Illustrierten, um meine Ohren heiß zu machen und meine Phantasie zu nähren. Ich fragte nicht nach stärkeren Reizen und suchte nicht danach. Im Lauf der Jahre aber wurde immer mehr gezeigt. Freizügigere Darstellungen boten sich an, und natürlich schaute man hin, auch wenn man nicht nach diesem Angebot gerufen hatte. Und dann gewöhnte man sich an den Anblick, was die Empfänglichkeit für noch eindeutigere Kost bei vielen erhöhte. Und am Schluß steht der Porno als mutmaßlicher Maximalreiz. Und am Schluß der subtilen Bedürfnislenkung und Abrichtung von Auge und Geschmack behaupten die Anbieter dreist, sie ließen sich einzig von der Nachfrage der Kunden und deren authentischen Wünschen leiten. Auf gleich verlogene und kriminelle Art rechtfertigen die Boulevardzeitungsherren und die Fernsehbosse den ungeheuerlichen Schrott, mit dem sie die Massen füttern. Erst trimmt man die Geschmäcker auf das Abgeschmackte und fördert Tag für Tag die Einfalt, und dann beruft man sich auf sie und das Bedürfnis der angeblich mündigen Kundschaft, stimmt’s oder habe ich recht?
    Ich fürchte, weder noch, sagte ich. Der Streit um Huhn und Ei ist zwar wie immer spannend, wir werden ihn aber kaum beilegen können. Ich frage mich nur eins. Wenn der Mensch so form- und lenkbar ist, wie Sie ihn sehen, warum dann nur im Negativen, warum nur in Richtung des schlechten Geschmacks, der Anspruchslosigkeit, der Primitivität auf allen Ebenen? Wenn sich die Massen so leicht und gerne prägen lassen, so könnte man sie doch auch dazu bringen, den Schrott als Schrott zu empfinden und empfänglich zu werden für edlere Kost. Und diese zu verbreiten wäre dann, da massenhaft gewünscht, genauso profitabel. Natürlich wird das alles nie geschehen, es bleibt dabei: je primitiver die Zeitung, desto höher die Auflage, je doofer die Sendung, desto höher die Quote. Es fragt sich nur, warum das so ist, und Ihre Antwort darauf, entschuldigen Sie, kann mich nicht überzeugen. – Mich auch nicht ganz, sagte Loos, und doch ist sie immer noch besser als Ihre, auf jeden Fall netter. Für Sie kommt der Mensch schon bescheuert zur Welt, zumindest aber mit dem instinktiven Hang, das Bescheuerte vorzuziehen. Als Pädagoge kann ich mir diese Ansicht nicht leisten, nicht vor der Pensionierung. Ich korrigiere mich: Es geht nicht darum, daß ich mir diese Ansicht nicht leisten könnte, ich hätte aufgrund meiner Erfahrung auch wenig Recht, sie zu vertreten. In der Schule nämlich kann ich mitunter erleben, daß es sehr wohl den Willen gibt, sich schlauer zu machen, daß es Interesse gibt für Neues und Anspruchvolles. Die Lust am Denken und Erkennen ist vorhanden, wenn auch nicht

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