Am Hang
meine Finger unruhig wurden, als sei ich auf Entzug. Loos nahm sich das Recht, mich warten zu lassen. Ich beschimpfte ihn innerlich als schwadronierenden Halbgreis. Es war jetzt fünf nach zehn. Wenn er in drei Minuten nicht zurück ist, fahre ich los. Nach Ablauf dieser Frist gab ich ihm nochmals drei Minuten. Er kam kurz vor halb elf, ich fühlte mich erleichtert.
Er setzte sich und sagte: Alles im Nebel, die Lichter drüben nicht sichtbar. Wie blind bin ich am Fenster gestanden, und die Vergeblichkeit des Ausschauhaltens hat mir zur Einsicht verholfen, daß der Gedenkende auf Augen gar nicht angewiesen ist. Auch eine schlichte Erkenntnis läßt sich gelegentlich Zeit, bis sie uns zufällt, nicht wahr? Im übrigen stimmt es natürlich nicht, daß es Ihr Nicken ist, das mich zum Reden verleitet, Sie nicken ja eigentlich selten. Ich glaube, ich habe schon irgendwann angedeutet, wie sich die Sache verhält: Ich habe mit meiner Frau auch meine Sprache verloren, zumindest die Geselligkeit, zu der sie gehört, die Sprache, und in der sie die Hauptrolle spielt. Ich habe mich zurückgezogen, auch von Freunden, und rede praktisch nichts mehr, schon gar nichts Privates. Meine Stimmbänder wären verschimmelt, wenn ich die Schule nicht hätte, die mich zum Sprechen zwingt. Als Sie sich gestern abend zu mir setzten, verzeihen Sie, hatte ich Angst, daß Sie mich ansprechen könnten, so große sogar, daß ich mir eine Tarnkappe wünschte, um Ihnen zu entgehen und nicht mit Ihnen reden zu müssen. Sie aber sind ein Vogelfänger, ein tüchtiger obendrein, Sie haben mich aus dem Busch gelockt, mich gefangengenommen und so gefügig gemacht, daß ich sogar zu zwitschern begann, so zwanghaft eifrig wie ein Vogel, der einen Winter lang geschwiegen hat. Soviel zur Erklärung meines Mitteilungsdrangs, ich bitte um Nachsicht.
Ich muß um Nachsicht bitten, sagte ich, ich habe mich Ihnen aufgedrängt und Ihre Kreise gestört. Es fällt mir sehr leicht, Kontakte zu knüpfen, und als extravertierter Mensch laufe ich offenbar manchmal Gefahr, nicht zu merken, daß andere anders sind. Ich fühle mich wohl unter Leuten und bin ungern allein, für mich ist Menschenscheu ein Fremdwort. Wie es sich ohne Umgang lebt und leben läßt, ist mir ein Rätsel. Gut, Sie haben zum Glück noch die Schule, was aber geschieht in der Freizeit? Was tun Sie in den Ferien? Reisen Sie wenigstens manchmal? – Ich halte es mit Ovid, sagte Loos, bene qui latuit, bene vixit. – Das müßten Sie mir übersetzen, sagte ich, ich verstehe leider nur ›bene‹, Latein war nicht meine Stärke. – Wer gut verborgen war, hat gut gelebt, sagte Loos, aber von solcherlei Wahrheit ahnt das Rudeltier nichts. Im übrigen, so arg allein bin ich nun auch wieder nicht, ich bin ja innerlich vereint, aber lassen wir das. Also, was tue ich in meiner Freizeit? Sie werden staunen, ich tue das, was mir vorschwebt seit meiner Geburt, nämlich nichts. Das gelingt mir natürlich nicht immer, aber ich übe und übe und bin auf dem Weg. Der Klügere gibt nach, sage ich mir und überlasse es den Tätigen, sich gegen die Schwerkraft zu stemmen. – Wie sieht das Nichtstun denn aus, konkret, und wie kann man sich darin üben? fragte ich Loos. – Nun, sagte er, üben heißt hier wie überall: etwas immer von neuem versuchen, bis es gelingt. Nehmen Sie an, Sie liegen auf dem Sofa, am Samstagmittag, und setzen sich das Lernziel, zwei Stunden lang liegen zu bleiben, ruhig, aber ohne zu schlafen. Sie hören, wie eine Nachbarin staubsaugt oder jemand den Rasen mäht. Statt jetzt an Dinge zu denken, die zu erledigen wären, sollten Sie nur die Spinne betrachten, die reglos an der Zimmerdecke sitzt, und dabei keinesfalls dem Wunsch nachgeben, sie aus dem Weg zu räumen. Jetzt läutet Ihr Telefon. Als Anfänger springen Sie auf und greifen zum Hörer. Das wäre nur dann bedenklich, wenn Sie aus Ihrem Versagen nichts lernten. Gehen Sie in sich, üben Sie weiter, bis Sie die Freiheit erlangen, auf Außenreize, die Sie zu einem Tun verleiten wollen, nicht mehr zu reagieren.
Ich verstehe, sagte ich, aber wozu das alles, was ist der Sinn der Übung? – Vielleicht, sagte Loos, erfahren Sie zwei Stunden lang, wie es sich anfühlt, kein Sklave zu sein, wie friedlich es in Ihnen wird, wenn Sie das Dauergefühl, etwas zu müssen, für eine Weile verlieren. – Jedem das Seine, antwortete ich, mir ist es wohler, wenn ich tätig bin, selbst dann, wenn hinter meiner Tätigkeit ein Müssen steht und nicht das
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