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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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unbedingt stündlich. Ich rede von den Schülern, wohlverstanden, und weniger vom Rest. – Ich nehme an, der Rest ist das Kollegium? – Loos nickte und schwieg eine Weile.
    Er sei ja blutjung in den Schuldienst eingestiegen, sagte er dann, und die älteren und alten Kollegen von damals seien inzwischen zum Teil schon gestorben, zum Teil in Pflegeheimen und anderen Anstalten untergebracht, wo sie alzheimerkrank oder hirnschlaggeschädigt vor sich hin vegetierten, vermutlich in Windeln gewickelt, und dabei hätten sich diese Kollegen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor kurzem noch, wie ihm vorkomme, herrgöttlich aufgespielt und schneidend artikuliert in den endlosen Konferenzen, in denen es unter anderem um die Versetzung oder Nichtversetzung gefährdeter Schüler gegangen sei beziehungsweise um die Überprüfung ihrer Noten. Meine Note muß bleiben! hätten die meisten der angesprochenen Lehrer mehr gebrüllt als gesagt und ihre Noten bis auf drei Stellen nach dem Komma zu Protokoll gegeben und deshalb als extrem exakt und unumstößlich empfunden. Und all diese Engstirnlinge, diese Schicksal spielenden und Lebensläufe dirigierenden Richter dämmerten jetzt, sofern sie noch lebten, debil vor sich hin, so wie die mächtigen Politiker und die anderen Scharfmacher und Schreihälse von einst heute entweder tot seien oder umfassend verlottert. Mit eigenen Augen habe er selbst, Loos, vor kurzem etwas Schauriges gesehen, und zwar im langen Flur des Pflegeheims, in dem auch seine Mutter wohne. Ein Männlein sei ihm entgegengekommen, tappelnd, und habe einen Föhrenzapfen, befestigt an einer Dreimeterschnur, hinter sich hergezogen, und dieser Greis sei in der Tat kein anderer gewesen als sein einstiger Englischlehrer, ein launischer und ekelhafter Hund, den alle gehaßt und gefürchtet hätten. Kurzum, für die Opfer dieser Menschen und Machtinhaber und Schandtäter müßte es eigentlich ein Trost und eine Genugtuung sein, deren Tod oder Verblödung zur Kenntnis zu nehmen, aber die Schürfungen heilten deswegen nicht rascher. Im übrigen sei er selbst, Loos, durchaus nicht ohne Schuld, auch er habe Schüler mitunter gekränkt und werde nie allen gerecht, aber da seinen Vergehen die Vorsätzlichkeit fehle, würden sich seine dereinst ehemaligen Schülerinnen und Schüler, wenn sie ihn auf der Straße träfen, vielleicht zufriedengeben mit seiner tropfenden Nase und seinem Hörapparätchen und ihn nicht härter bestraft sehen wollen. Jetzt aber, Herr Clarin, bemerke ich einmal mehr, wie sprunghaft und zuchtlos ich rede, schon wieder bin ich abgedriftet, zum Beispiel von Penelope, zu der ich noch ein Wörtchen nachzutragen hätte.
    Natürlich vermuten Sie, ich sei vor ihr geflohen, weil der Geist meiner Frau es so wollte, vielleicht auch, weil Sie mich für triebschwach halten. Ich glaube, beides trifft nicht zu, das letztere allenfalls dann, wenn Sie den Trieb, der etwas mehr benötigt als einen duftenden Leib, als schwach bezeichnen möchten. Um dieses Mehr ist es gegangen, es hat gefehlt, sein Fehlen hätte den Beischlaf, obwohl Penelope ihn begrüßt haben würde, zur Schändung gemacht, ich meine, zur mechanischen Verrichtung. Ich weiß, man kann einander einvernehmlich und in Ermangelung verbindender Gefühle auf das Geschlecht reduzieren, nur bringt das mehr Tristesse als Wonne. Also, ich hätte mich vergangen, auch an mir, wenn ich Penelopes Appell, mich zu ihr unter das gestirnte Deckbett zu gesellen, beherzigt hätte. Verstehen Sie mich recht, ich habe Lust dazu gehabt, doch neben dieser Lust empfand ich eben auch anderes, das sich als stärker und darum als handlungsbestimmend erwies, und zwar das Gefühl der fehlenden Gemeinsamkeit, der unstimmigen Seelenchemie, und so weiter und so fort, ich verüble Ihnen Ihr Nicken, es verstärkt meine Redseligkeit, ich gehe schnell auf mein Zimmer.
    Ich war froh um die Pause, froh, für Minuten befreit zu sein von der bedrängenden Präsenz dieses Mannes. Aber nicht eine Sekunde wünschte ich mir, er möge oben bleiben und mich sitzenlassen. Ich fragte mich, ob mein Interesse für andere Menschen in Wahrheit immer lau gewesen sei, oder, gemessen am Übermaß des Interesses, das Loos in mir erregte, nur lau erscheine. Ich wußte es nicht. Ich fragte mich, wie seine Frau es ausgehalten hatte mit diesem in jeder Hinsicht schweren Mann. Ich versuchte, mich nichts mehr zu fragen und mich zu entspannen. Als Loos nach zehn Minuten noch immer nicht zurück war, bemerkte ich, daß

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