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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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hierhergetrieben habe. Nachts hätten stundenlang Hunde gejault, und am Morgen, als er gefrühstückt habe, sei plötzlich die Kripobeamtin vor ihm gestanden, habe hallo geschrien und sich schwatzend an seinen Tisch gesetzt. Der Horror habe sich am Abend wiederholt. Er sei in einer der hundert Tavernen gesessen, im Freien natürlich und erstmals entspannt, wenn auch ein wenig gestört von der ewigen Sorbas-Musik und den Bodylotiongerüchen der mehrheitlich stummen Paare um ihn herum. Als er sie kommen gesehen habe, die Kripobeamtin, habe er seine Serviette fallen lassen und sei unter den Tisch getaucht, um sich zu verstecken, doch sei sie, die Beamtin, bereits vor ihm gestanden, als er aufgetaucht sei. Wenigstens habe sie diesmal gefragt, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Statt nein zu sagen, habe er bitte gesagt und dabei seine Eltern gehaßt, denn nichts sei schwerer abzuschütteln als Wohlerzogenheit.
    Loos trank, fixierte mich dabei und fragte, ob mich sein Zeug überhaupt interessiere und ob ich, falls nein, den Mut hätte, es zu sagen. Ich antwortete wahrheitsgemäß, es interessiere mich, er solle sich keine Sorgen machen und ruhig weitererzählen. – Gut, sagte Loos, ich will mich trotzdem bemühen, mich nicht zu verlieren. Ich sage nur, damit es nicht so aussieht, als sei ich ein Misogyn, daß die Berner Beamtin nicht einfach unansehnlich war, sondern auch frei von Feinfühligkeit. Ihre Sprache war grob, ihre Stimme war laut, ihr Reden Geschwätz. Was mich ein Stückweit entschädigt hätte, nämlich einen fesselnden Kriminalfall erzählt zu bekommen, blieb aus. Auf meine diesbezügliche Frage sagte sie nur, sie sei im Innendienst tätig gewesen und weniger an der Front. Instinkt schien sie trotzdem zu haben, denn es gelang ihr in den nächsten Tagen, mich praktisch überall aufzuspüren. Wenn ich am Strand einen Liegestuhl fand, der links und rechts und vorn und hinten von besetzten Stühlen umgeben war, dann fühlte ich mich zwar beengt, aber wenigstens abgeschirmt. So blieb ich manchmal unentdeckt, doch gelassen genießen konnte ich nicht. Ich saß nur auf dem Stuhl und scharrte von Zeit zu Zeit mit den Füßen im Sand, und meine trostlose Stimmung hellte sich einzig bei der Vorstellung auf, daß sämtliche Leiber um mich herum eines Tages zu Staub werden würden. Ich zog mich mehr und mehr auf mein Zimmer zurück beziehungsweise auf den Balkon, aber es zeigte sich rasch, daß der Balkon nicht wirklich benutzbar war. Saß ich am Nachmittag dort, so sah ich vor und unterhalb von mir – Distanz kaum zwanzig Meter – diverse Oben-ohne-Frauen im Sand, teils liegend, teils sitzend, und manchmal schaute eine zu mir hoch, stieß eine andere an, die ebenfalls hochschaute, und unschwer konnte ich ihrem Kichern entnehmen, wofür sie mich hielten. Der Balkon fiel also aus, und nicht einmal spätabends war es mir vergönnt, in Ruhe dort zu sitzen und einen Ouzo zu trinken, denn auf dem Nachbarbalkon spielten zwei deutsche Paare ein Spiel, ich glaube ein Kartenspiel, bei dem man ständig mau oder maumau sagen zu müssen schien, es wurde stundenlang mau oder maumau gesagt und geschrien. Der Urlaub zehrte an mir, ich gehe davon aus, daß der Traum, den ich in der Nacht vor der Abreise hatte und von dem mir nur noch das Hauptbild erinnerlich ist, die Bilanz meiner Zakynthos-Tage symbolisch hat ausdrücken wollen. In diesem Traum sah ich mich selbst in grotesker Gestalt, und zwar als abgenagten Knochen. Nicht als Skelett, wohlverstanden, sondern als Knochen aus einem Stück, der unten zwei Höcker hatte, auf denen er notdürftig hüpfen konnte, aber nur rückwärts. Kurios, nicht wahr? Ausgerechnet ich als eher massiger Mann muß mich als Knochen sehen. Vielleicht hat mir das Traumbild auch einfach sagen wollen, daß ich mit meiner Fresserei aufhören sollte. Sie müssen wissen, ich habe in den ersten zwölf Wochen nach dem Verlust meiner Frau zirka acht Kilogramm zugenommen. Ich habe keinen Wein mehr trinken mögen, statt dessen habe ich mich exzessiv befressen und bin schwerer als nötig geworden. Ich schäme mich ein wenig, von dieser Sucht zu reden, auch darum, weil es ja heißt, daß dumme Menschen fressen und gescheite trinken. Erinnern Sie sich an das Gewitter?
    An das Gewitter von gestern nacht? Aber natürlich, wie kommen Sie jetzt darauf? – Verzeihung, sagte Loos, ich meine das Gewitter im Hyde Park, ich meine den Todesblitz, ich wollte sagen, daß sich meine Frau nach diesem schweren Schlag verändert hat,

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