Am Hang
und eines der Zeichen dafür bestand im Essen süßer Sachen. Sie tat es heimlich und in erheblichen Mengen, ich kam durch Zufall dahinter. Im Wissen um meine Zuneigung für Qualitätsbleistifte hatte mir meine Frau einen Bleistiftspitzer aus Messing geschenkt, und eines Tages, ich stand gebückt über dem Kehrichtsack in der Küche und war im Begriff, einen Bleistift zu spitzen, fiel mir der Spitzer aus der Hand. Er verschwand so spurlos im Kehricht, daß ich den Sack ausräumen und umfüllen mußte, wobei mir die große Anzahl von zerknüllten Schokoladepapieren auffiel. Irgendwie rührte mich diese Entdeckung, und irgendwie tat es mir weh, meine Frau auf so heimlichen Wegen gehen zu sehn. Sie mußte doch wissen, daß ich ihr mehr an Süßem gönnte, als sie je essen konnte. Natürlich sagte ich nichts, ich wollte keinesfalls, daß sie sich schämte wie ein Kind, das beim Naschen ertappt wird. Auch einen Zettel, auf den ich beim Stochern gestoßen war, erwähnte ich nicht, obwohl ich gern mehr gewußt hätte über den Sinn des Satzes, den sie in flüchtiger Handschrift darauf geschrieben hatte: Ich will keinen Himmel, der an der Fensterscheibe kleben bleibt. Ein seltsames Bild, nicht wahr? Meine Frau hat sich also ein wenig verändert nach dem Unglück im Hyde Park, und am verständlichsten für mich war der Umstand, daß sie, die mit Gewittern früher nie Probleme hatte, jetzt schon bei fernem Donnern oder Wetterleuchten zu schwitzen und zu zittern begann. Und leider war es nicht möglich, sie zu beruhigen, sie in die Arme zu nehmen, sie ängstigte sich in den Momenten der Angst auch vor jeder Berührung, so daß es für mich fast so aussah, als nähme sie mich als Teil des Bedrohlichen wahr. Nachträglich schämte sie sich, nachträglich ließ sie sich trösten. Und einmal erzählte sie mir, daß sie mit ihrer Mutter, die im fünften Stock eines Wohnblocks lebte, nicht mehr im Aufzug fahren könne, ohne von Angst vor der Nähe der Mutter befallen zu werden. Gewisse Eigenheiten und Empfindlichkeiten meiner Frau sind allerdings schon immer vorhanden gewesen und nach dem Erlebnis in London nur deutlicher in Erscheinung getreten. Ihr Körper war ja, müssen Sie wissen, eine einzige Wünschelrute, die auf Störquellen aller Art aufs empfindlichste reagierte. Wir haben in den ersten Ehejahren zweimal die Wohnung im Einzugsgebiet von Zürich gewechselt und in jeder mehrmals den Standort des Bettes, weil meine Frau sich einmal durch Wasseradern, einmal durch niederfrequente magnetische Felder beeinträchtigt fühlte. Auch Föhn und Vollmond setzten ihr zu. Trotz alledem, Sie hätten ein falsches Bild, wenn Sie meine Frau für krank halten würden, für wehleidig oder nervenschwach. Feinnervig ist sie gewesen, nicht nervenschwach, und daß sie nicht wehleidig war, hat sie später, als sie wirklich erkrankte und mit dem Schlimmsten rechnen mußte, weiß Gott zur Genüge bewiesen. Mein Gedächtnis läßt mich im Stich, habe ich gestern schon davon erzählt, ich meine von dieser Erkrankung?
Sie haben von einem Tumor gesprochen, aber nur andeutungsweise, Sie sagten auch, daß dieser Tumor mit Erfolg operiert worden sei und daß die blonden Haare Ihrer Frau, die man des Eingriffs wegen abgeschnitten habe, rasch nachgewachsen seien. – Alle Achtung, sagte Loos, Sie wären ein begnadeter Lügner. – Wie kommen Sie denn darauf? Ich weiß nicht, was Sie meinen. – Nur ein Scherz, sagte Loos, nur eine Anspielung auf Quintilian, der meint, daß Lügner angewiesen seien auf ein vorzügliches Gedächtnis. Kurz und gut, etwa zehn Monate nach dem Ereignis im Hyde Park begann meine Frau unter nächtlichem Kopfschmerz zu leiden. Und manchmal, noch vor dem Frühstück, mußte sie sich erbrechen. Ich nahm nur letzteres ernst, ich insistierte auf einem Schwangerschaftstest und hoffte auf ein Kind. Aber damit war nichts, die späte Erfüllung unseres Wunsches blieb uns versagt. Eines Morgens sagte meine Frau zu mir, sie sehe mich verzerrt. Ich meldete sie sofort krank bei ihrem Arbeitgeber, trotz ihres Widerstands. Sie war ja, wahrscheinlich habe ich es schon erwähnt, in einem Juwelierbetrieb tätig, in einer Schmuckmanufaktur, wo sie als Sachbearbeiterin den Trauring-Bereich betreute. Dies nebenbei. Als dann in ihrer linken Körperhälfte noch Taubheitsgefühle auftraten, ging meine Frau zum Arzt. Er veranlaßte sofortige Klärung. Die Diagnose kam rasch und mit ihr mein Entsetzen. Astrocytom. Eine Geschwulst aus den sternförmigen
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