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Am Hang

Am Hang

Titel: Am Hang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Werner
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besuchte sie ihn. Ende August rief sie mich an, an einem Mittwoch. Sie sagte, sie sei am Sonntagabend von Agra abgereist, und seither habe sie nichts mehr von Tasso gehört und könne ihn nicht erreichen. Ob er sich bei mir gemeldet habe. Nein, sagte ich und beruhigte sie, ich lachte sie sogar aus. Es schien mir wirklich übertrieben, nach zweieinhalb funkstillen Tagen schon alarmiert zu sein. Sie war es aber, und da sie auch am Donnerstag nichts von Giovanni hörte, stieg sie am Freitag in den Zug. Was sie in Tassos Haus vorfand, übersteigt jede Vorstellungskraft. Es war so unsagbar entsetzlich, daß sie für kurze Zeit das Bewußtsein verlor. Er lag verkrümmt auf dem Sofa. Ameisen, Fliegenschwärme auf ihm.
    Ich pausierte und trank. – Grauenhaft, murmelte Loos, Mord oder Selbstmord? – Weder noch, sagte ich, er starb, wie zweifelsfrei festgestellt wurde, eines natürlichen Todes, Herzschlag, Sekundenherztod, vermutlich schon am Montag und vermutlich verursacht durch einen angeborenen Herzklappenfehler. Gelitten hat er mit Sicherheit nicht, das war der einzige Trost. Magdalena hat alles durchgestanden, dann aber, Wochen nach Tassos Bestattung, mußte sie etwas erleben, was sie zusammenbrechen ließ. Tasso hat die Gewohnheit gehabt, fast immer eine Fotokamera bei sich zu haben, eine leichte, kompakte, die er sein Tagebüchlein nannte. Die Fotos, die er machte, bekam ich selten zu Gesicht. Sie fielen dadurch auf, daß nichts darauf zu sehen war, was auffiel. Er hatte eine Schwäche und einen Blick fürs Unscheinbare. Kurzum, in dieser Kamera befand sich noch ein Film, und diesen ließ Magdalena entwickeln, um, wie sie sagte, zu wissen, was in den letzten Tagen oder Stunden seines Lebens in Tassos Augen gefallen sei. Das Bildzählwerk hatte angezeigt, daß sieben Bilder belichtet waren, und sieben entwickelte Bilder kamen zurück. Sie zeigten alle eine nackte Frau, teils von vorne, teils von hinten, die auf dem Sofa mit dem hellblauen Überwurf lag, auf dem auch Tasso gelegen hatte, als Magdalena ihn fand.
    Loos starrte mich an, ich schwieg, er sagte mit sonderbar heiserer Stimme: Weiter! – Wie weiter? sagte ich, die Geschichte ist aus. – Nein, sagte Loos, keine Geschichte ist aus und zu Ende, es gibt nur den willkürlichen Abbruch an einem beliebigen Punkt. Wer war diese Frau? – Wir wissen es nicht. Magdalena hat aus einem der Fotos, auf denen man das Gesicht sehen konnte, den Kopf ausgeschnitten und das Bildchen jenen gezeigt, die Tasso am nächsten standen.
    Niemand hatte die Frau je gesehen, niemandem ist es zu glauben gelungen, daß Tasso ein Doppelleben geführt haben könnte. Vergeblich hat Magdalena, um sich Gewißheit zu verschaffen, in seinen Sachen nach Zeichen dafür gesucht, es fand sich nicht das kleinste Fetzchen. Ich habe noch zu erwähnen vergessen, daß auf der Rückseite der Fotos das Aufnahmedatum aufgedruckt war. Sie waren drei Tage vor Magdalenas letztem Besuch entstanden, ich meine vor dem letzten Wochenende, das die beiden zusammen verbrachten. Ich habe keine andere Erklärung, als daß mein Freund, nachdem er sexuell einmal geweckt war, triebmäßig die Kontrolle verlor, nicht an sich halten konnte und eine käufliche Frau zum Hausbesuch bestellte. Zwar paßt auch das nicht zu ihm, doch eine andere Deutung sehe ich nicht, denn eines ist für mich todsicher: Der liebende Tasso hatte keine Geliebte.
    Wie sah sie aus, die Frau? fragte Loos. – Schwer zu sagen, ich habe die Bilder ja nicht gesehen, nur den Ausschnitt mit dem Gesicht, das etwas Slawisches hatte, betonte Wangenknochen, rotblondes Haar, die Züge eher herb und die reifere Frau verratend, sie war bestimmt zehn Jahre älter als Tasso. Warum fragst du? – Nur so, sagte Loos, erzählen Sie weiter! – Nachtragen, sagte ich irritiert, auch weil mich Loos wieder siezte, nachtragen kann ich nur noch, daß Magdalena, therapeutisch begleitet, allmählich wieder herausfand aus der lähmenden Depression, die nach dem Doppeltrauma Besitz von ihr ergriffen hatte. Das Haus in Agra hat sie nie mehr betreten und vor vier Jahren verkauft: an mich und meinen Kollegen, meinen Partner in der Anwaltskanzlei. Das war’s.
    Natürlich ist es nicht leicht, mit dem Abgrund zu leben, sagte Loos, und die Versuchung ist groß, ihn zu ergründen. Man sollte es nicht, es führt nur zu wütender Trauer. Schaut man horchend hinab, hört man sein eigenes Zähneknirschen oder das Echo davon, sonst nichts. Wer bist du? Wie sieht es in deinem Innersten aus?

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