Am Hang
Ich hatte gar nicht den Wunsch, das Wort zu ergreifen, obwohl ich sonst gern rede und mich unter meinesgleichen nicht unwohl fühle in der Rolle des wortführenden Platzhirschs. Jetzt aber, wie gesagt, hatte ich kein Bedürfnis zu reden, vermutlich auch deshalb nicht, weil ich befürchtete, Loos’ unverhofftes Interesse zu enttäuschen. Er schien mich so weit gebracht zu haben, daß ich mich und mein Leben fast fad fand. Er schaute mich an. An Ihrer Stelle hätte ich die Geduld mit mir schon lange verloren, sagte er. – Wer gepackt sei, antwortete ich, brauche keine Geduld. Was mir ein wenig Geduld abverlange, sei einzig der Umstand, daß er fast nichts zu Ende erzähle und mich sogar im unklaren lasse, ob Lara trächtig geworden sei oder nicht. – Es stimmt, ich komme nie zu einem Abschluß, sagte Loos, und Lara ist leider nicht trächtig geworden. – Warum denn leider? fragte ich. – Das möchte ich jetzt nicht erklären, sagte er, Sie haben ja das Wort. – Es sei nicht leicht, auf Geheiß zu reden, sagte ich, und außerdem wisse ich nicht, was er von mir zu hören wünsche. Loos füllte unsere Gläser. Ich möchte Ihnen gern das Du anbieten, sagte er, ich glaube, es ist nicht mehr nötig, uns mit der Sie-Form auf Distanz zu halten. – Loos’ Antrag kam für mich so unerwartet, daß ich nicht sofort reagieren konnte. Es muß nicht sein, sagte er, es war nur eine Anwandlung. – Ich freue mich darüber, sagte ich schnell, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. In Wahrheit war ich froh um die Distanz, die Loos jetzt abbauen wollte. Sein Gravitationsfeld, wenn ich so sagen darf, übte schon Kraft genug auf mich aus. – Ich heiße Thomas, sagte ich. – Loos stutzte kurz und sagte dann: Das habe ich vermutet. – Vermutet? Weshalb denn? – Nun, sagte er, ich habe gestern nacht das Namensschild an Ihrer Haustür gesehn, T. Clarin, und auf dem Rückweg habe ich versucht, Vornamen, die mit einem T beginnen, aufzuzählen, ich habe nur acht gefunden, am ehesten, so schien es mir, passe Thomas zu Ihnen. Im übrigen verbindet uns etwas, ich heiße wie Sie, ich meine wie du. – Thomas? – Thomas, ja.
Bevor ich mich zu diesem Zufall äußern konnte, sagte Loos, es sei ihm bei seinem Aufbruch noch etwas anderes aufgefallen. Mein Namensschild befände sich, mit einem zweiten zusammen, auf dem linken Rahmen der Haustür. Und auf dem rechten Rahmen habe er ein drittes Schildchen gesehen, aus Messing, von Grünspan verfärbt, aber noch lesbar. Wie ich ja wisse, stehe Tasso darauf, und dieser namhafte Name habe ihn sehr verwundert. – Sie sind mir ein Rätsel, sagte ich, du bist mir ein Rätsel, wie kannst du so viel trinken wie gestern und trotzdem noch scharfäugig sein? – Seine Fülle erlaube ihm vieles, antwortete er, und ob ich ihm nicht sagen wolle, wer dieser Tasso sei. – Er war mein bester Freund, sagte ich, wir haben als Studenten Wand an Wand gewohnt, er lebt nicht mehr. Ihm hat das Häuschen in Agra gehört, mit sechsundzwanzig ist er dort gestorben.
Im Unterschied zu mir verstehst du es, dich knapp zu fassen, sagte Loos, nur eben, es fehlt das Fleisch am Knochen. Mehr Fleisch, Thomas, wenn ich bitten darf! War dieser Tasso womöglich ein Verwandter des berühmten und verrückten Dichters? – Das wurde er häufig gefragt, und er pflegte darauf bescheiden zu sagen, er wisse es nicht. Er stammte aus der Gegend um Neapel, und als er fünfjährig war, verloren seine Eltern bei einem Autounfall ihr Leben. Man verpflanzte ihn in die Schweiz, nach Bern, zu einer Schwester seines Vaters, die kinderlos verheiratet war mit einem Schweizer Ingenieur, der Engel hieß und der, als Tasso dreizehn war, in einen Liftschacht stürzte. Er hinterließ seiner Frau ein nettes Vermögen sowie ein Häuschen in Agra, wohin sie sich zurückzog, als Tasso zu studieren begann. Zwei Jahre später starb auch sie, ich glaube an Lymphdrüsenkrebs, und das Häuschen ging über in Tassos Besitz. Ist es so recht, Thomas, oder soll ich mehr raffen? – Es wird zu viel gestorben, sagte Loos, sonst ist es recht, erzähl! – Gut, also, im Dachgeschoß eines stattlichen Hauses, das einer Bäckerswitwe gehörte, fand ich gleich zu Beginn des Studiums ein kleines und billiges Zimmer. Die Toilette mußte ich teilen mit den Mietern der zwei anderen Zimmer, und einer davon war der mir unbekannte Tasso. Er wohnte schon länger hier, er studierte Geschichte und Englisch im vierten Semester, und daß wir enge Freunde wurden, grenzt an ein Wunder.
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