Am Helllichten Tag
sie den Waschraum.
Nathalie sieht, wie durch eine Tür weitere Opfer des Tunnelbrands hereingetragen werden. Auf sie und das Kind achtet kein Mensch, also schiebt sie den Buggy nach links, einen Flur entlang, um die Ecke in den nächsten Flur. Dort sind mehr Leute unterwegs; ein paar Patienten und Schwestern mustern sie neugierig.
Nathalie lässt sich nicht beirren, folgt den Schildern mit der Aufschrift USCITA und geht, ohne zu zögern, ins Freie.
Unweit der Klinik sieht sie ein Schild mit der Aufschrift »Holiday Cars« und findet ein Stück weiter an der Via San Gottardo eine Autovermietung.
Der Mann am Tresen, Enzo Cappecchi laut Namensschild, starrt sie zunächst mit offenem Mund an und sagt dann etwas auf Italienisch.
Nathalie versteht lediglich den Namen des Tunnels und fragt, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen, auf Englisch nach einem Auto. Nach einem Kleinwagen mit Kindersitz für eine Woche.
Während Cappecchi in seinem Computer nach einem passenden Wagen sucht, wirft er ihr immer wieder Seitenblicke zu.
Sie sucht währenddessen in der Reisetasche nach ihrem Handy, findet es aber nicht. Plötzlich fällt ihr ein, dass es im Auto sein muss – sie hatte es auf die Konsole neben der Handbremse gelegt.
»Verdammter Mist!«
Wenigstens muss sie jetzt nicht mehr mit Anrufen von Vincent rechnen.
Vielleicht glaubt er ja, sie wäre im Tunnel ums Leben gekommen. Wo er wohl war, als der Brand ausbrach? Noch vor der Ampel an der Zufahrt oder bereits mittendrin und damit in der Falle?
Wie dem auch sei, sie hat jetzt einen tüchtigen Vorsprung, denn mit Sicherheit hat sich vor dem Tunnel ein ellenlanger Stau gebildet. Selbst wenn Vincent die Passstraße genommen hat, ist er bestimmt nicht als Einziger auf diese Idee gekommen. Und falls der Sender tatsächlich am Alfa angebracht war, kann er sie nicht weiter verfolgen.
Cappecchi bietet ihr einen Fiat Punto an.
Nathalie nickt und holt Führerschein und Pass heraus.
Er betrachtet die Papiere und schnuppert daran, denn sie verströmen einen penetranten Rauchgeruch, wie auch Nathalies Kleider.
Eine Viertelstunde später verlässt sie mit dem lilafarbenen Fiat das Gelände der Autovermietung und fährt die Via San Gottardo entlang.
Mehrere Fahrzeuge mit niederländischem Kennzeichen kommen ihr entgegen, alles Urlauber, wie es scheint. Von Vincents Porsche ist weit und breit nichts zu sehen. Nathalie fühlt sich nun, da sie ein Auto mit ausländischem Kennzeichen fährt, ein wenig sicherer.
Die Stadt wirkt friedlich im Schein der Nachmittagssonne. Als Nathalies Blick das grandiose Bergpanorama erfasst, denkt sie mit Schaudern an die Katastrophe im Tunnel zurück.
Über Locarno fährt sie am Westufer des Lago Maggiore entlang in Richtung Cannobio. Die kurvenreiche Strecke erfordert ihre ganze Konzentration, trotzdem wirft sie hin und wieder einen Blick auf den See. Blau glitzernd liegt er da, atemberaubend schön zwischen den bewaldeten Hängen.
Sie sieht auf die Uhr: zehn nach halb fünf. Es ist nicht mehr weit bis zum Ferienhaus. Wenn nichts dazwischenkommt, ist sie in einer Stunde dort.
Eine Dreiviertelstunde später erreicht sie Cannobio mit seiner reizvollen Uferpromenade voller Cafés, Bars, Restaurants und Läden.
Alles wirkt vertraut, sie fühlt sich an frühere Zeiten erinnert – d as letzte Mal war sie vor Jahren zusammen mit ihrem Vater und einer seiner Freundinnen hier.
Der Weg führt jetzt bergauf, vorbei an üppig blühenden Gärten. Nach mehreren Kurven sieht sie das Haus mit seinen terrakottafarbenen Mauern und blauen Fensterläden, halb verdeckt vom Laub der Bäume.
Ihre Eltern hatten das Anwesen, das sich Casa di Lago nennt, obwohl es nicht direkt am See liegt, zu einer Zeit gekauft, als die Immobilienpreise in Italien noch günstig waren. Heute ist es bestimmt ein kleines Vermögen wert.
Eine Kurve noch, dann biegt Nathalie in die Zufahrt ein. Als sie den dunkelblauen Ford Galaxy mit niederländischem Kennzeichen sieht, lässt sie das Auto ausrollen und kommt ein paar Meter von dem Wagen entfernt zum Stehen.
Auch das noch!
Unschlüssig sitzt sie am Steuer. Soll sie umkehren und sich im Ort ein Zimmer nehmen? Doch um diese Jahreszeit sind sämtliche Hotels und Pensionen bestimmt längst ausgebucht.
Ihre Augen brennen vor Müdigkeit, sie sehnt sich nach einer Dusche und hat Hunger und Durst.
Auf eine längere Suche nach einem Nachtquartier hat sie ebenso wenig Lust wie auf eine Begegnung mit ihrer Schwester. Also was
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