Am Helllichten Tag
tun?
Die Entscheidung wird ihr abgenommen, weil die Haustür aufgeht und ein Mann auf die Schwelle tritt. Er legt die Hand über die Augen und mustert misstrauisch den fremden Wagen. Dann ruft er etwas ins Haus und kommt auf sie zu.
Sie fügt sich ins Unvermeidliche, öffnet die Autotür und steigt aus.
»Hallo, Edwin«, sagt sie. »Wie braun du bist! Schon länger hier?«
Für einen Moment ist ihr Schwager irritiert, dann erkennt er sie.
»Na so was!«, sagt er verdutzt und wirft einen Blick auf das Nummernschild. »Wie kommst du denn hierher?«
»Eins nach dem anderen … Ist Cécile auch da?« Eine dämliche Frage – selbstverständlich ist ihre Schwester auch da. Sekunden später tritt sie in die Tür, in Bikini und dazu passendem Wickelrock.
Anders als ihr Mann muss Cécile nicht erst überlegen, wer vor ihr steht.
»Was soll das? Was hast du hier zu suchen?«
Verärgert über den unfreundlichen Empfang, lehnt Nathalie sich ans Auto und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was ich hier zu suchen habe? Das Haus gehört schließlich auch mir!«
»Du bist doch sonst nie hier.«
»Jetzt aber schon.«
Cécile kommt näher, mustert Nathalie eingehend und verzieht dann das Gesicht.
»Und wie du aussiehst! Man könnte dich glatt für eine Pennerin halten.«
»Im Gotthardtunnel hat es gebrannt, und ich war mittendrin.« Nathalie bemüht sich um einen sachlichen Tonfall, doch ihre Stimme zittert.
»Im Gotthardtunnel soll es gebrannt haben?« Es klingt so argwöhnisch, als glaubte Cécile, ihre Schwester wollte ihr irgendein Schauermärchen auftischen.
»Das stimmt«, mischt Edwin sich ein. »Vorhin im Fernsehen haben sie sogar eine Sondersendung darüber gebracht. Anscheinend hat es etliche Todesopfer gegeben.« Er starrt seine Schwägerin entgeistert an: »Und du warst da drin? Wie um Himmels willen bist du rausgekommen?«
»Ich bin kurz nach dem Unfall losgerannt. Viele andere sind bei ihren Autos geblieben, weil sie wohl dachten, es wäre nicht so schlimm.« Nathalie geht ein paar Schritte vom Wagen weg und auf ihre Schwester zu. »Ich bin ziemlich durstig. Habt ihr vielleicht was zu trinken für mich?«
»Selbstverständlich.« Céciles Ton ist jetzt freundlicher, aber sie rührt sich nicht vom Fleck. Misstrauisch reckt sie den Hals, scheint nach einer zweiten Person Ausschau zu halten, die ihr noch weniger willkommen ist als die Schwester. »Wo ist Vincent?«, fragt sie schließlich geradeheraus.
»Ich bin allein. Und keine Angst, ich will nicht bleiben. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr hier seid, wäre ich gar nicht gekommen. Ich möchte nur was trinken, danach suche ich mir ein Hotelzimmer.«
»Kommt nicht in Frage – du bleibst natürlich hier.« Edwin wirft seiner Frau einen beschwörenden Blick zu.
»Natürlich …«, echot Cécile, wenn auch nicht sehr überzeugt.
Weil sie ein paar Meter vom Auto entfernt stehen, haben Edwin und Cécile das Baby noch nicht gesehen. Zum Glück, denn Nathalie hat weder den Nerv noch die Energie für eine Auseinandersetzung und auch absolut keine Lust auf irgendwelche Vorwürfe oder abfälligen Bemerkungen.
»Lasst nur, ich finde bestimmt was im Ort.« Sie geht zum Auto und öffnet die Tür. Als sie einsteigen will, stimmt Robbie ein klägliches Weinen an. Er hat Hunger und vermutlich auch die Windel voll.
Auf Céciles Gesicht zeichnen sich Fassungslosigkeit und Ent setzen ab. Bevor Nathalie es verhindern kann, rennt sie zum Auto und reißt die hintere Tür auf.
»Das darf nicht wahr sein!«, schreit sie. »Jetzt hat sie auch noch ein Kind von dem Kerl!«
19
»Ihr steckt also in einer Sackgasse mit euren Ermittlungen«, sagt Emma Vriens. Sie trägt ein Tablett in ihr mit Möbeln, Zierrat und Krimskrams vollgestopftes Wohnzimmer.
Julia, die auf dem Sofa Platz genommen hat, beugt sich vor und schiebt ein paar Gegenstände auf dem Couchtisch beiseite, um Platz für das Teegeschirr zu schaffen.
»Wir haben jede Menge Leute befragt: Anwohner, Kollegen, Bekannte und Freunde des Paars, natürlich auch Verwandte«, sagt sie. »Da sind einige Probleme ans Licht gekommen, aber nichts so Gravierendes, dass jemand einen Grund gehabt hätte, die beiden aus dem Weg zu räumen. Ein Motiv hat eigentlich nur der junge Marokkaner.«
»Waren die Opfer denn wirklich so schlimme Rassisten?«, fragt Emma beim Einschenken.
»Nun ja, man ist heutzutage schnell als Rassist abgestempelt«, sagt Julia. »Jedenfalls scheint der Mann ein Anhänger von Geert Wilders’
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