Am Helllichten Tag
Rechtspartei gewesen zu sein und hat mit seiner Meinung über Ausländer nicht hinterm Berg gehalten. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er sich damit Feinde gemacht hat, aber deshalb erschießt man doch keinen …«
»So was kommt vor«, wendet ihre Großmutter ein. »Da reicht ein einziger Fanatiker.«
»Du hast recht«, gibt Julia zu. »Aber bisher haben wir nichts gegen diesen Rachid in der Hand. Keinen einzigen Beweis.«
Im Grunde wissen sie nicht einmal, ob mit den Initialen R. A. tatsächlich er gemeint ist. Julia war noch einmal in der Imbissstube, um bei Roy nachzufragen, doch der tat so, als wüsste er von nichts, und behauptete, vermutlich hätte jemand zufällig etwas auf die Serviette gekritzelt.
»Aber ihr müsst doch wenigstens irgendeinen Verdacht haben«, hakt Emma nach.
Julia unterdrückt einen Seufzer. Dienstagabends spielt ihre Großmutter immer mit ein paar älteren Leuten Bridge und möchte dabei gern mit Neuigkeiten auftrumpfen, die sie von ihrer Enkelin bei der Polizei hat. Schon x-mal hat sie versucht, ihr klarzumachen, dass sie eigentlich nichts über die Ergebnisse polizeilicher Ermittlungen erzählen darf. Mal ganz abgesehen davon, dass es bislang so gut wie keine Ergebnisse gibt.
Rachid Amranis Umfeld wurde genauestens unter die Lupe genommen, doch die Nachforschungen haben wenig ergeben. Dass er in allerlei kriminelle Machenschaften verwickelt ist, war schon vorher bekannt. Neu ist lediglich, dass er in letzter Zeit auch mit Waffen gehandelt hat. Mit den Morden in der Bachstraat jedoch scheint er nichts zu tun zu haben.
Geistesabwesend streichelt Julia Sammie, den roten Kater, den ihre Großmutter aufgenommen hat, nachdem ihn ein paar Nachbarkinder am Fluss gefunden hatten. Das etwa vier Wochen alte Tier steckte in einem Sack, der halb im Schilf, halb im Wasser lag, und wäre um ein Haar ertrunken.
Ebenso selbstverständlich wie seinerzeit um ihre Enkelin küm mert sich Emma Vriens seitdem um den Kater.
Ohne sie wäre Julia bestimmt in einem Heim gelandet – wer weiß, was dann aus ihr geworden wäre.
Sie lässt den Blick über die vielen Kartons und prallen Plastiktüten im Zimmer schweifen. Ein vertrauter Anblick, denn ihre Oma bringt es nicht über sich, Sachen wegzuwerfen, egal ob alte Kleider, Schuhe, Gardinen, Stoffreste, Schallplatten, Häkeldeckchen oder Stickbilder.
Längst nicht alles stammt aus ihrem Besitz. Wenn sie erfährt, dass jemand seinen Speicher oder Keller aufräumt, ist sie zur Stelle und nimmt alles mit, was nicht völlig kaputt ist und ihr noch irgendwie brauchbar erscheint.
»Viel zu schade zum Wegwerfen«, sagt sie immer. »Damit kann ich bestimmt noch jemandem eine Freude machen.«
Niemand, der Emma besuchen kommt, verlässt ihr Haus mit leeren Händen. Wollmützen, Strickschals, Nippesfiguren oder alte Bücher – sie verschenkt ihre zusammengehamsterten Schätze großzügig an Freunde und Bekannte.
Julia hat einmal die Vermutung geäußert, diese Marotte stamme aus der Kriegszeit, als es kaum etwas zu kaufen gab.
»Ach was!«, hatte Emma daraufhin gesagt. »Der Krieg ist doch schon eine Ewigkeit her – damals war ich fast noch ein Kind. Und später hatten wir dann wieder alles, was wir brauchten, auch wenn wir nicht im Luxus gelebt haben. Meine Mutter hatte es viel schwerer: Sie musste in den Kriegsjahren neun hungrige Mäuler stopfen. Sie hat alles für uns Kinder getan, aber als wir dann aus dem Haus waren, hat sie kurzen Prozess gemacht und das alte Zeug weggeworfen. Ich dagegen habe noch heute sämtliche Sachen, die dein Vater als Kind getragen hat, und sein ganzes Spielzeug.«
Julias Blick bleibt an einem gut zwei Meter hohen Turm aus Kartons neben dem Fenster haften.
»Ist jemand umgezogen oder gestorben?«, fragt sie. »Es kommt mir so vor, als wäre dein Wohnzimmer noch voller als sonst.«
»In den Kartons sind Sachen aus den zwei hinteren Zimmern. Die möchte ich nämlich vermieten.«
»Warum denn das?«
»Warum nicht? Ich stelle mir das ganz nett vor. Dann hab ich Beschäftigung und ein bisschen Ansprache.«
»Aber du hast doch jede Menge Beschäftigung mit deinen vielen Sachen.«
»Schon, aber ich fühle mich oft einsam. Das soll kein Vorwurf sein, Kind. Du kommst mich ja besuchen, wann immer du kannst. Aber ich hätte gern ständig jemanden bei mir.«
»So was geht nicht immer gut, Oma«, wendet Julia ein.
»Ich weiß. Aber mach dir keine Sorgen; ich nehm schon nicht den erstbesten Mieter. Erst sehe ich mir die
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