Am Helllichten Tag
theoretisch gesprochen, natürlich – ein Verbrechen begehst, am Tatort ab. Was dann?«
»Die Richter gehen bei Verurteilungen nie ausschließlich von DNA -Spuren aus«, sagt Sjoerd. »Selbst wenn man welche hat, wird der Betreffende höchstwahrscheinlich freigesprochen, wenn er nicht gesteht oder sich keine weiteren Beweise finden. Deshalb spricht nichts gegen eine gesetzliche DNA -Registrierungspflicht. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass so was enorm abschreckend wirkt.«
»Stimmt«, muss Julia zugeben. »Aber man findet ja längst nicht an allen Tatorten DNA von den Tätern . Die sind ja nicht von gestern und treffen Vorkehrungen. Denk nur an den Vergewalti gungsfall vor einem Jahr: Da hat der Täter ein Kondom benutzt und das Opfer hinterher gezwungen, zu duschen und sich die Zähne zu putzen. In solch einem Fall kann man lange nach DNA -Spuren suchen.«
»Wie? Das ist tatsächlich passiert?« Melanie sieht sie mit großen Augen an.
»Ja, wir haben sogar schon mal von einem Fall gehört, bei dem der Täter den Staubsauger angeworfen hat, um Spuren zu beseitigen. Und den Staubsaugerbeutel hat er gleich mitgenommen.«
»Das kommt auch von diesen dämlichen Serien«, brummt Sjoerd. »Nicht nur harmlose Zuschauer lernen was dabei, sondern leider auch Kriminelle.«
Minutenlang ist es still. Ein leichter Wind lässt das Laub der Bäume rascheln.
»Ich glaube, wir sollten das Thema wechseln«, meint Melanie schließlich. »Sonst verderben wir uns noch den schönen Abend.«
Sie essen gemeinsam, reden über alles Mögliche, und die Zeit vergeht wie im Flug.
Als Julia aufbricht, ist es bereits stockdunkel.
»Ich kann dich gern nach Hause fahren«, bietet Sjoerd an. »Wir beide wissen nur zu gut, was für Gesindel sich nachts herumtreibt.«
Julia muss lachen. »Die kurze Strecke mit dem Rad wird schon nichts passieren. Und tagsüber jage ich ja selbst Verbrecher, wie du weißt.«
»Tagsüber bist du aber bewaffnet.«
»Ich werd’s auch ohne Dienstpistole schaffen, mir die Unholde vom Leib zu halten.«
Mit einem Wangenkuss verabschiedet Julia sich von Sjoerd und Melanie. »Danke für den schönen Abend«, sagt sie. »Es war echt gemütlich bei euch.«
»Ja, das sollten wir bald wiederholen.« Melanie lächelt Julia zu, als sie sich aufs Rad schwingt. Der kühle Abendwind lässt sie frösteln, und Sjoerd legt schützend den Arm um seine Frau.
Ohne sich noch einmal umzusehen, fährt Julia los.
18
Bellinzona liegt am Fuß des Gotthardmassivs, umgeben von bewaldeten Hängen. Durch die Scheibe des Krankenwagens sieht Nathalie die Landschaft an sich vorüberziehen.
Sie erreichen die Klinik San Giovanni und halten vor der Notaufnahme. Als die Tür des Krankenwagens geöffnet wird, hört Nathalie Sirenen heulen, und gleich darauf fahren zwei weitere Ambulanzen vor.
Eine Schwester hilft ihr und Robbie aus dem Wagen, bringt sie in ein reichlich überfülltes Wartezimmer und bittet sie, Platz zu nehmen.
Offenbar schätzt man ihren Zustand als nicht sehr bedrohlich ein. Nathalie sieht das genauso. Nachdem sie Sauerstoff bekommen hat, fühlt sie sich wieder völlig obenauf.
Nach zehn Minuten wird Robbie unleidlich. Er mag nicht mehr auf dem Schoß sitzen, dreht und windet sich und schreit aus Leibeskräften. Ein Zeichen, dass mit seiner Lunge alles in Ordnung ist, denkt Nathalie. Allerdings sieht der Kleine verheerend aus; Gesicht und Kleider sind rußgeschwärzt. Und sie selbst könnte auch eine Dusche gebrauchen. Auf ihren Armen hat der Rauch eine fettige schwarzgraue Schicht hinterlassen.
So wie es aussieht, wird es noch eine ganze Weile dauern, bis sich ein Arzt um sie kümmert.
Nathalie steht auf und fragt am Empfang nach ihren Sachen. Sie macht eine Geste, als wollte sie trinken und zeigt dann auf Robbie. Die Schwester nickt und holt den Buggy, der hinterm Tresen steht.
Nathalie setzt den Kleinen hinein und macht sich auf die Suche nach einer Toilette.
Dort öffnet sie ihre Reisetasche und kontrolliert hastig den Inhalt. Zu Glück ist alles noch da.
Erleichtert bereitet sie ein Fläschchen für Robbie vor. Der kann es kaum erwarten und streckt die Hände danach aus.
Während die Milch warm wird, betrachtet Nathalie sich im Spiegel und rückt dem Schmutz mit Papiertüchern, Wasser und Seife zu Leibe.
Als Robbie getrunken hat, kommt er an die Reihe. Er sträubt sich mit Händen und Füßen gegen die Reinigungsaktion.
Nicht mehr ganz so schmutzig, wenn auch noch längst nicht sauber, verlassen
Weitere Kostenlose Bücher