Am Helllichten Tag

Küchentür. Sie schleicht hinein und sieht Cécile im Flur neben dem bluten den Edwin knien. Ob er schwer verletzt ist, kann sie nicht erkennen.
    Cécile schaut auf, ihre Blicke treffen sich.
    Nathalie bleibt wie gelähmt stehen; erst als Cécile ihr bedeutet, sie solle verschwinden, löst sie sich aus der Erstarrung.
    Sie hört Vincent im Obergeschoss laut fluchen, dann splittert Holz. Lange wird es nicht mehr dauern, bis die Türfüllung endgültig nachgibt.
    Nathalie sagt sich, dass es ihm nicht um Cécile und Edwin geht, sondern allein um sie. Wenn sie den beiden helfen will, sollte sie tatsächlich möglichst schnell das Weite suchen. Dann wird Vincent zwar die Verfolgung aufnehmen, aber nur so hat Cécile eine Chance, Hilfe zu holen.
    Weitere kostbare Sekunden vergehen, während sie das Reisebett unter dem Tisch hervorzieht, das zu ihrer Verwunderung nach wie vor schlafende Kind heraushebt, auf den Arm nimmt und mit der anderen Hand nach ihrer Tasche greift.
    Dann rennt sie zum Auto, wirft die Sachen auf den Beifahrersitz und legt Robbie kurzerhand in den Fußraum davor – ihn jetzt in den Kindersitz zu verfrachten würde viel zu lange dauern.
    Keuchend setzt sie sich ans Steuer und lässt den Motor an.
    Bevor sie von der Zufahrt auf die Straße einbiegt, sieht sie im Rückspiegel, wie Vincent zu seinem Porsche läuft.
    Sie gibt Gas und rast los, nimmt die Haarnadelkurven so schnell, dass sie mehrmals fast die Leitplanken streift.
    Der Porsche ist noch nicht zu sehen, dafür aber deutlich zu hören. In jeder Kurve heult sein Motor auf. Der wendige Fiat verschafft ihr einen kleinen Vorsprung, trotzdem wird sie Vincent kaum abschütteln können, zumal sie den Peilsender offenbar nach wie vor bei sich trägt.
    Sie muss das Ding finden und loswerden, doch jetzt muss sie sich aufs Fahren konzentrieren.
    Am Ortsausgang von Cannobio entscheidet sie sich, am Seeufer entlang nach Norden zu fahren.
    Vincent hat den Rückstand bald aufgeholt. Mit Schrecken sieht Nathalie im Rückspiegel, wie der Porsche immer näher kommt. Gleich wird er zum Überholen ansetzen …
    Sie reißt das Steuer nach links, so abrupt, dass der Fiat kurz ins Schleudern gerät und Vincent gerade noch ausweichen kann.
    Das nächste Überholmanöver muss er wegen eines entgegenkommenden Fahrzeugs abbrechen.
    Noch ein paarmal versucht er es, doch Nathalie hindert ihn daran, indem sie in der Straßenmitte fährt.
    Wenn das so weitergeht, denkt sie, passiert gleich ein Unglück. Sie sieht sich bereits mit dem Auto in den Leitplanken hängen oder, noch schlimmer, im See landen.
    Vincent scheint gemerkt zu haben, dass er so nichts erreicht, und geht jetzt aufs Ganze. Er fährt auf den Fiat auf, nimmt ihn auf die Stoßstange.
    Nathalie wird gegen das Lenkrad geschleudert, Robbie rollt über den Boden und beginnt zu schreien.
    Metall knirscht, und Funken sprühen, als der Fiat die Leitplanke schrammt.
    Wieder taucht auf der Gegenfahrbahn ein Auto auf, und Vincent lässt sich zurückfallen.
    Mit zusammengebissenen Zähnen fährt Nathalie weiter, hält verzweifelt Ausschau nach einer Ausweichmöglichkeit.
    Da sieht sie ein Schild, das die Grenze zur Schweiz ankündigt, und schöpft neue Hoffnung. Dort kann sie anhalten und um Hilfe bitten. Doch dann werden ihr die Grenzer unangenehme Fragen stellen.
    Vincent muss das Schild ebenfalls registriert haben, denn er nimmt das Tempo zurück, vermutlich weil er damit rechnet, dass sie anhält.
    Aber Nathalie denkt nicht daran. Sie schaltet lediglich einen Gang zurück und verlangsamt das Tempo.
    Niemand wartet am Übergang; sie hat gute Chancen, durchgewinkt zu werden.
    Am offenen Schlagbaum steht ein uniformierter Mann in lässiger Haltung. Als er die beiden Autos kommen sieht, strafft er den Rücken.
    Nathalie hofft, dass er beim Anblick des niederländischen Porsche den Schluss zieht, dass Vincent Drogen schmuggeln will; sie erinnert sich, dass ihr Vater mit seinem dicken Auto früher auch stets an der Grenze angehalten und kontrolliert wurde.
    Als sie auf den Mann zufährt, zeigt sie aufgeregt hinter sich. Ihr ist bewusst, dass sie damit Gefahr läuft, selbst angehalten zu werden, doch er winkt sie durch. Nathalie schaltet einen Gang höher, tritt aufs Gas und passiert die Grenze.

23
    Im Rückspiegel verfolgt Nathalie, was hinter ihr geschieht. Der Grenzer sieht ihr kurz nach, dann nimmt er den Porsche ins Visier, dessen Motor aufheult, als wollte er beschleunigen. Er tritt einen Schritt vor und hebt die