Am Helllichten Tag
Hand.
Erst sieht es so aus, als würde Vincent das Signal ignorieren, doch als sich der Schlagbaum senkt, muss er klein beigeben.
Nathalie ist so erleichtert, dass sie laut auflacht.
»Wir haben’s geschafft, Robbie!«, jubelt sie. Doch schon bald stellen sich Zweifel ein. Was, wenn Vincent sich doch irgendwie herausredet? Womöglich darf er nach einer kurzen Kontrolle weiterfahren – in diesem Fall ist er in Kürze wieder hinter ihr.
Sie muss eine andere Strecke nehmen, damit sie ihn leichter abschütteln kann.
Nathalie konzentriert sich auf die Schilder und sieht, dass es nicht mehr weit bis Madonna di Ponte ist, ein Dorf kurz vor Brissago. Dort kann sie eine Route durch die Berge nehmen. Aber zuallererst muss sie den Sender loswerden, den sie in der Reisetasche vermutet.
Sie sucht nach einer Möglichkeit, anzuhalten. Bald sieht sie einen Aussichtspunkt. Dort parkt ein Reisebus, die Touristen sind ausgestiegen. Nathalie biegt ab, greift kurz entschlossen nach der Reisetasche und räumt ihren Inhalt in eine Plastiktüte, die sie im Auto findet. Sie trägt die Tasche zu einem der Abfallkörbe, wirft sie hinein und geht wieder zum Auto.
Als sie den Blick hebt, geht gerade die Sonne über den Bergen auf. Ihre Strahlen fallen auf den See, der glitzert und funkelt wie ein Diamant. Ein atemberaubender Anblick!
In einiger Entfernung zieht ein Tragflügelboot eine weiße Spur. Es fährt nicht nach Madonna di Ponte, sondern scheint Brissago anzusteuern.
Nachdenklich betrachtet Nathalie das Boot, dann hat sie es plötzlich eilig.
Sie setzt sich ans Steuer und lässt den Motor an.
Am Parkplatzausgang sieht sie sich in beide Richtungen um: kein Porsche weit und breit.
Bevor sie abbiegt, wirft sie einen Blick in den Rückspiegel. Am Geländer neben dem Abfalleimer steht ein junger Mann und holt gerade die Tasche heraus. Er dreht und wendet sie, sichtlich verwundert, dass ihr Besitzer sie weggeworfen hat. Dann geht er damit zu dem abfahrbereiten Reisebus.
Brissago liegt malerisch am Ufer des Lago Maggiore. Von der Altstadt führen schmale Straßen hinab zum Hafen, wo Zitronenbäume, Bougainvilleen und Zedern eine mediterrane Atmosphäre schaffen.
Nathalie hat den Fiat in einem Parkhaus abgestellt, damit er Vincent nicht auffällt, sollte er plötzlich hier auftauchen. Bei nächster Gelegenheit will sie die Autovermietung anrufen und Bescheid geben, wo er steht.
Ein Ticket nach Locarno hat sie bereits gekauft und nutzt nun die Zeit, bis das Tragflügelboot einläuft, um in einer Bar rasch einen Kaffee zu trinken und ein Brötchen zu essen.
Die Kellnerin hat sich erboten, für Robbie ein Fläschchen zu wärmen. Robbie trinkt es gierig aus.
Mit brummendem Motor läuft das Boot ein und stößt sanft gegen die Kaimauer.
Eilig sucht Nathalie ihre Sachen zusammen, stellt sich mit Robbie an und sieht sich verstohlen um. Kein Vincent. Wahrscheinlich steckt er noch an der Grenze fest, oder er hat ihre Spur verloren. Oder aber er kommt im letzten Moment angerast …
Inzwischen haben sich weitere Passagiere angestellt. Als die Laufplanke ausgefahren wird, geht Nathalie mit dem Kind im Buggy als eine der Ersten an Bord.
Die meisten Leute streben dem Oberdeck zu, um die Aussicht zu genießen, Nathalie hingegen bleibt unten und sucht sich einen Platz im Innenraum. Von dort aus behält sie den Kai im Blick, darauf gefasst, dass Vincent jeden Augenblick auftaucht. Es kommen aber nur Touristen und Pendler aufs Schiff.
Sie legen gerade ab, als ihr ein silbergraues Auto auffällt. Weil das Boot im gleichen Moment einen leichten Bogen fährt, kann sie sich nicht mehr vergewissern, ob es der Porsche ist. Egal, fürs Erste ist sie in Sicherheit.
Erschöpft lehnt sie sich zurück und schließt kurz die Augen.
Nach einer Weile nimmt das Boot Kurs auf Ascona und legt an. Nathalie lässt den Blick über die am Kai Wartenden gleiten. Ihr Verfolger ist nicht darunter. Nervös sitzt sie auf der Stuhlkante und beobachtet die Passagiere, die an Bord gehen.
Als sie wieder sanft auf dem Wasser dahingleiten, überlegt sie, wie es wohl Cécile und Edwin geht. Während der rasanten Verfolgungsjagd bis zur Grenze war sie außerstande, an etwas anderes zu denken als an ihre Flucht.
Nun kommen Schuldgefühle auf. Wenn Edwin stirbt, ist das allein ihre Schuld. Als sie das Auto ihres Schwagers und ihrer Schwester vor dem Haus sah, hätte sie umkehren und sich eine andere Unterkunft suchen müssen.
Wenn sie doch nur kurz anrufen könnte!
Sie
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