Am Helllichten Tag
laufen muss.
Es ist noch Nacht, als sie, schweißgebadet und nach Luft ringend, aus dem Schlaf hochschreckt.
Um der Panik Herr zu werden, steht sie auf, will zum Fenster gehen. Sie stolpert über die Tasche, stürzt und schlägt sich den Kopf an einem Stuhl an.
Mühsam rappelt sie sich auf, tappt im Dunkeln weiter, tastet mit vorgestreckten Händen nach der Wand, dem Fenstergriff.
Sie findet ihn, öffnet das Fenster und stößt die Läden auf. Fahles Mondlicht fällt ins Zimmer.
Nathalie stutzt und spitzt die Ohren. Mit einem Schlag begreift sie, weshalb sie aufgewacht ist. Da war ein Geräusch, und jetzt ist es ganz deutlich zu hören – das Röhren eines Motors.
Reglos steht sie da, sieht ein Auto die schmale Straße bergauf fahren und Scheinwerfer aufleuchten. Sie hat keine Ahnung, wie spät es ist, aber bestimmt hat kein Mensch so früh etwas in dieser Gegend zu suchen – kein Mensch, außer einem.
21
»Cécile, Edwin!« Nathalie rennt auf den Flur, reißt die Tür zum Schlafzimmer ihrer Schwester und ihres Schwagers auf. »Vincent kommt! Schnell, steht auf!«
Nur mit einer Boxershorts bekleidet, erhebt sich Edwin schlaftrunken vom Bett.
»Was ist passiert? Hast du schlecht geträumt?«
»Nein! Nicht geträumt! Vincent … Er wird gleich hier sein!«
Nathalie zerrt Edwin mit sich ins blaue Zimmer, zeigt aus dem Fenster auf das näher kommende Auto.
»Bist du sicher, dass er es ist?« Edwin reibt sich die Augen.
»Das ist sein Porsche, ich hör es genau! Ist unten alles gut abgeschlossen?«
Am ganzen Körper zitternd, schlüpft Nathalie in ihre Kleider: Jeans, T-Shirt und Jacke.
Abgeschlossene Türen konnten Vincent noch nie aufhalten. Er wird Mittel und Wege finden, ins Haus zu gelangen …
Am liebsten würde sie sofort die Flucht ergreifen, doch der Weg zu ihrem Auto führt unweigerlich an Vincent vorbei. Sie könnte zwar durch die Terrassentür fliehen, aber mit Robbie würde sie zu Fuß nicht weit kommen, und ihn hierzulassen kommt nicht infrage.
Edwin legt ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Keine Bange, der kommt nicht rein. Und falls doch, sind wir zu dritt. Ich hab jedenfalls keine Angst vor ihm.«
Das solltest du aber lieber, denkt Nathalie, sagt jedoch nichts. Sie ist weiß wie die Wand und kaut vor Nervosität an ihren Fingernägeln.
Sicherheitshalber trägt sie ihre Tasche und das Reisebett mit dem schlafenden Baby nach unten, damit sie notfalls rasch weg kann. Sie traut Vincent alles zu, sogar dass er Feuer legt, um sie aus dem Haus zu treiben.
Durch einen Vorhangspalt im Wohnzimmer späht sie ins Freie. In der Zufahrt leuchten jetzt Scheinwerfer auf, der Kies knirscht unter den Reifen, dann wird der Motor abgestellt.
Eine Autotür geht auf, wird wieder zugeworfen.
Sie hört den Ruf einer auffliegenden Krähe, dann ist alles still.
Mittlerweile ist auch Cécile ins Wohnzimmer gekommen. Ihre Miene spiegelt eine Mischung aus Ärger und Verwunderung. »Was will der Kerl um diese Zeit hier? Es ist gerade mal halb fünf!«
»Macht bitte nicht auf, wenn er klingelt! Auch wenn er freundlich tut, er ist …« Nathalie verstummt.
»Keine Sorge, Edwin wird schon mit ihm fertig«, versichert Cécile.
Um ihre Schwester nicht zu beunruhigen, sagt Nathalie nichts dazu.
Schaudernd wendet sie sich wieder zum Fenster.
Eine dunkle Gestalt nähert sich dem Haus – unverkennbar Vincent mit seinem lässigen und doch zielstrebigen Gang, der verrät, dass er sich von nichts und niemandem aufhalten lässt.
Als er den Blick aufs Fenster richtet, weicht Nathalie zurück und lässt den Vorhang los.
»Ich muss raus«, flüstert sie. »Er hat mich gefunden, es ist aus! Ich will nicht, dass ihr da mit hineingezogen werdet. Vielleicht geht es ja noch mal gut aus, wenn ich ihn um Verzeihung bitte.«
»Um Verzeihung bitten? Wofür denn?« Cécile starrt sie empört an. »Du tickst wohl nicht richtig! Auf keinen Fall gehst du vor die Tür – du bleibst hier!«
»Aber er darf euch nicht …«
»Für Rücksichten ist es jetzt ohnehin zu spät. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich zusehe, wie du zu dem Mistkerl zurückgehst? Jetzt, wo du es endlich geschafft hast, dich ansatzweise von ihm zu lösen? Der soll ruhig reinkommen – ich werd ihm schon Bescheid sagen!«
»Genau!«, bekräftigt Edwin, der hinter sie getreten ist, ein dickes Holzscheit in der Hand. »Eine falsche Bewegung, und ich zieh ihm das Ding über den Schädel.«
Seine Entschlossenheit stürzt Nathalie in einen
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