Am Helllichten Tag
schon vermutet, aber …«
»Grün und blau geschlagen hat er mich, aber dir war das egal!«
Edwin steht auf und verlässt das Wohnzimmer.
Weder Cécile noch Nathalie protestieren.
Schließlich seufzt Cécile auf. »Weißt du, ich dachte, du hättest es besser als ich. Als ich noch zu Hause gewohnt habe, hat Pa dir kein Haar gekrümmt, während ich immer als Sündenbock herhalten musste. Du warst sein Augenstern, und ich war rasend eifersüchtig. Im Grunde meines Herzens habe ich dich sogar gehasst, damals. Nicht dass ich dir deshalb etwas Böses gewünscht hätte, aber es hat mir schon schwer zugesetzt, dass er dich so viel lieber mochte als mich. Ich weiß noch, wie ihr aus der Karibik zurückgekommen seid, mit – wie hieß sie doch gleich? – Kirsten. Du hast vom Urlaub geschwärmt, durftest sogar einen Tauchkurs machen. Du warst gut in der Schule, Pa hat dich ständig gelobt, dich als leuchtendes Beispiel hingestellt und …«
»Er hat uns gegeneinander ausgespielt. Du weißt doch selbst, wie gut er sich verstellen konnte. Und nach den Ferien auf Bonaire ging seine Beziehung mit Kirsten in die Brüche, und er hat seinen Frust wochenlang an mir abreagiert.« Nathalie zieht die Beine an und legt die Arme darum.
Eine Weile schweigen beide.
»Das tut mir leid«, sagt Cécile leise. »Wenn ich das alles gewusst hätte, hätte ich dich weggeholt. Das heißt, vielleicht wusste ich es ja oder ahnte es zumindest. Aber ich war die ersten Jahre nach meinem Auszug sehr mit mir selbst beschäftigt. Mir ging es nicht gut, und ich wollte die Vergangenheit einfach hinter mir lassen. Erst als ich Edwin kennenlernte, wurde es besser. Er war mein Retter. Und glaub mir, ich wollte dich auch retten – nicht vor Pa, aber vor Vincent. Mir war von Anfang an klar, dass du mit dem nicht glücklich wirst.«
Nathalie blinzelt mehrmals, um die Tränen zurückzudrängen.
»Damals war Vincent mein Retter.«
»Blödsinn! Er hat dich geschlagen!«
»Aber nicht so schlimm wie Pa. Und auf seine Art war er auch gut zu mir.«
»Auf seine Art, ja – auf seine ganz spezielle Art!« Cécile seufzt und fährt dann fort: »Warum bist du jetzt hier, wenn er so gut zu dir ist?«
Nathalie weicht ihrem Blick aus. Einen Moment ist sie versucht, ihrer Schwester zu erzählen, was passiert ist, aber sie bringt den Mut nicht auf, ist zu erschöpft von den Aufregungen des Tages.
Cécile entgeht das nicht, und sie steht auf. »Du bist leichenblass. Wie wär’s, wenn du schlafen gehst? Du kannst im blauen Zimmer bei Robbie übernachten. Das Gästebett ist bezogen.«
Nathalie nickt und erhebt sich von der Couch. Ein wenig steif und mit gezwungenem Lächeln wünscht sie ihrer Schwester eine gute Nacht.
Wenn das jetzt ein Film wäre, denkt sie auf der Treppe, hätten wir uns tränenreich versöhnt und wären uns in die Arme gefallen. Aber im wirklichen Leben läuft es anders. Vielleicht weil sie weiß, dass Cécile auch nach ihrem Auszug noch eifersüchtig auf sie war und deshalb gar nicht so genau wissen wollte, wie es ihr ging.
Ob sie ihrer Schwester je verzeihen kann? Vielleicht, aber das heißt noch lange nicht, dass sie künftig ein Herz und eine Seele sein werden.
Im Gästezimmer mit den azurblau gestrichenen Wänden liegt Robbie längst in tiefem Schlummer. Die Hände zu Fäustchen geballt, schnorchelt er leise vor sich hin.
Lächelnd beugt Nathalie sich über ihn. Unglaublich, wie tief das Kind schläft, ohne auch nur zu ahnen, welchem Schicksal es heute entronnen ist.
Sie hat sich gerade hingelegt, als ihr einfällt, dass sie ja noch ihre Sachen kontrollieren wollte. Widerwillig steht sie noch einmal auf und greift nach der Reisetasche. Es würde sie nicht wundern, wenn Vincent mehrere Gegenstände mit Peilsendern präpariert hätte, misstrauisch, wie er ist.
Sie räumt die Tasche aus, tastet das Futter ab und untersucht es sorgfältig auf Risse, wird aber nicht fündig. Danach nimmt sie sich ihre Handtasche vor, ebenfalls ohne Ergebnis.
Wahrscheinlich war der Sender am Auto angebracht, sonst wäre Vincent bestimmt längst hier.
Doch ganz sicher ist sie sich nicht, deshalb hat sie den Fiat vorhin noch gewendet, damit sie notfalls sofort losfahren kann. Das sollte genügen …
Todmüde schlüpft sie wieder ins Bett. Kaum hat sie den Kopf aufs Kissen gelegt, schläft sie ein und versinkt sogleich in düstere Träume voller beängstigender Bilder. Bilder von einem stockdunklen, rauchgefüllten Tunnel, in dem sie um ihr Leben
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