Am Helllichten Tag
Zwiespalt der Gefühle. Sie ist gerührt und zutiefst dankbar, dass Edwin ihr beistehen will, und gleichzeitig verzweifelt, weil sie genau weiß, dass er gegen Vincent nichts ausrichten kann. Allein die Vorstellung, dass er ihm mit einem Stück Holz zu Leibe rücken will!
Von draußen ist kein Laut zu hören. Vermutlich schleicht Vincent gerade ums Haus. Es geht ihm wohl gegen die Ehre, an der Tür zu klingeln – lieber sucht er eine andere Möglichkeit, ins Haus zu gelangen.
Ob er gemerkt hat, dass wir im Wohnzimmer sind?, denkt Nathalie. Oder glaubt er, uns im Schlaf überrumpeln zu können?
Ein Geräusch an der Hintertür lässt sie zusammenzucken. Vincent macht sich offenbar am Schloss zu schaffen.
Cécile horcht ebenfalls auf, und Edwin geht ein paar Schritte in den Flur, das Holzscheit in der erhobenen Hand.
»Er kommt nicht rein«, wispert Cécile. »Das Schloss ist neu und stabil.«
Kaum hat sie zu Ende gesprochen, sind in der Küche Schritte zu hören.
Edwin reagiert sofort – er macht im Flur Licht und bezieht vor der Küchentür Stellung. Nathalie kommt nicht umhin, seinen Mut zu bewundern.
Die Tür geht auf, und noch bevor Edwin ausholen kann, hat Vincent seine Pistole auf ihn gerichtet. Edwin erstarrt in der Bewegung.
Nathalie und Cécile stehen nach wie vor im dunklen Wohnzimmer, sind im Licht, das vom Flur hereinfällt, jedoch gut sichtbar.
»Hierher, Nathalie!« Der übliche Befehlston.
Nathalie spürt, wie ihre Schwester sie fest am Arm packt, um sie zurückzuhalten. Doch das ist überflüssig; sie ist ohnehin unfähig, sich zu rühren, selbst wenn sie wollte.
»Ich sehe euch genau«, hallt Vincents Stimme aus dem Flur. »Komm sofort her, Nathalie, sonst mach ich den Kerl hier kalt.«
Céciles Griff lockert sich.
Im Halbdunkel bemerkt Nathalie ihren erstaunten Blick, weil Vincent sie nun schon zum zweiten Mal mit ihrem falschen Namen angesprochen hat.
Sie überlegt fieberhaft, ob sie wohl eine Chance hat, wenn sie sich reumütig gibt. Damit hat sie schon so manches erreicht. Aber nachdem sie Vincent mit der Lampe k. o. geschlagen hat … Nein, das verzeiht er ihr nie. Wenn sie jetzt nachgibt, bringt er sie um. Aber wenn sie sich weigert, muss Edwin es ausbaden, und das will sie um jeden Preis verhindern.
»Wo ist Robbie? Oben?«
Nathalie presst die Lippen zusammen. Auf keinen Fall darf sie verraten, dass sie das Reisebett samt Robbie unter den Küchentisch geschoben hat.
Sie räuspert sich und sagt dann ganz ruhig »Ja, oben. Er schläft.«
»Hol ihn, los!«
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hält er den Pistolenlauf an Edwins Schläfe.
»Lässt du ihn dann in Ruhe?«
Zwar bleibt unklar, wen sie meint, doch Vincent nickt.
»Wenn du das Kind holst und mitkommst, können die beiden hier in fünf Minuten wieder in die Falle.«
»Mach’s nicht«, flüstert Cécile. »Er wird Edwin schon nichts tun.«
Dessen ist sich Nathalie ganz und gar nicht sicher. Vincent kommt es auf eine Leiche mehr oder weniger nicht an, und Kompromisse sind schon gar nicht seine Sache.
»Er meint es ernst«, flüstert sie Cécile zu. »Ich hab keine Wahl.«
»Schluss mit der Tuschelei!«, herrscht Vincent sie an. »Los, geh rauf! Hol Robbie und deine Sachen!«
22
Hölzern wie eine Marionette macht Nathalie die ersten Schritte in den Flur. Sie greift in die Hosentasche und nimmt, unbemerkt von Vincent, der Edwin mit der Pistole in Schach hält, ihr Pfefferspray heraus. Dann setzt sie den Fuß auf die unterste Treppenstufe.
»Mach schon! Beeilung!«
Sie geht ein paar Stufen weiter, dreht sich dann blitzschnell um, beugt sich übers Geländer und sprüht Vincent den Reizstoff ins Gesicht.
Der brüllt auf, hält sich die Hand vor die Augen, gerät ins Wanken und fuchtelt wild mit der Pistole herum.
Nathalie hastet die Treppe hinauf, als sie einen Schuss hört und gleich darauf den Aufschrei ihrer Schwester.
Sie rennt ins Schlafzimmer von Cécile und Edwin, den einzigen abschließbaren Raum im Obergeschoss, dreht den Schlüssel im Schloss, läuft zum Fenster und stößt die Läden auf. Dann zerrt sie Kissen und Decken vom Bett und beginnt, die Matratzen hochzuwuchten.
Mühsam schleppt sie sie zum Fenster und schiebt sie hinaus.
Als sie Vincent an der Klinke rütteln hört, steigt sie aufs Fensterbrett und springt.
Sie landet halb auf einer Matratze, halb im Gras daneben.
Von oben kommen dumpfe Schläge. Vincent scheint die Tür einzutreten.
Nathalie rennt ums Haus herum zur offenen
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