Am Helllichten Tag
jedes Mal, wenn er mich sah, hat er die Ärmchen nach mir ausgestreckt. Ich war seine Lieblingsschwester.«
Schweigen.
»Ja«, sagte Ilse leise. »Ich weiß …«
39
Ilses Bestürzung macht auf Nathalie wenig Eindruck. Kühl mustert sie die Frau, die wie erstarrt dasitzt, während ihr Eis langsam schmilzt.
»Ist dir eigentlich klar, was du da angerichtet hast?«, fährt sie fort. »Du hast nicht nur meine Mutter und meinen Bruder umgebracht, sondern mir auch den Vater genommen. Er kam mit der Situation überhaupt nicht zurecht, begann zu trinken und meine Schwester und mich grün und blau zu schlagen. Ja, so ist meine Jugend verlaufen, Ilse. Und wie war es bei dir?«
Bevor Ilse antworten kann, redet Nathalie auch schon weiter: »Ich war oft auf dem Friedhof, wo meine Mutter und Robbie begraben sind. Mein ganzes Taschengeld habe ich für Blumen und Plüschtiere ausgegeben und sie aufs Grab gelegt. Vater und Cécile gingen auch hin, aber nicht so oft wie ich. Nur dich habe ich dort nie gesehen. Hast du auch nur ein einziges Mal Blumen auf das Grab gelegt? Und an ihrem Todestag an die beiden gedacht? Oder hast du einfach weitergelebt, so als wäre nichts gewesen?«
Sie schweigt und sieht Ilse provozierend an – mit einer lapidaren Entschuldigung kommt sie ihr nicht davon.
Zu ihrer Verwunderung hat Ilse Tränen in den Augen.
»Selbstverständlich habe ich an sie gedacht«, sagt sie mit brüchiger Stimme. »Dass ich nie am Grab war, stimmt, aber das heißt nicht, dass ich es mir leicht gemacht hätte. Jedes Jahr zu Karneval bekam ich Depressionen. Jahrelang habe ich mich zurückgezogen und bin keine Beziehung eingegangen, weil ich dachte, ich hätte kein Recht auf Glück. Und aus demselben Grund wollte ich keine Kinder. Die Schuldgefühle waren so massiv, dass ich angefangen habe, mich selbst zu verletzen. Später habe ich eine Therapie gemacht, das hat ein wenig geholfen. Als ich dann meinen jetzigen Mann kennenlernte und ein Jahr darauf schwanger wurde, war ich zunächst todunglücklich. Ich habe gehofft, dass es ein Mädchen wird, und zum Glück war dem auch so.«
Nathalie hat mit abgewandtem Gesicht zugehört. Ilses Worte lassen die Mauer aus Wut bröckeln, die sie um sich herum errichtet hat.
Ach was!, denkt sie, das ist doch nur Gerede. Doch das Zittern in Ilses Stimme verrät, dass auch sie gelitten hat. Sie hält nach wie vor die Waffel in der Hand, ohne auch nur ein Mal am Eis geleckt zu haben, das ihr über die Finger läuft.
»Es tut mir unendlich leid«, flüstert sie.
Nathalie isst in aller Ruhe ihr Eis auf und wischt sich dann die Hand an der Jeans ab.
»Genau das wollte ich wissen«, sagt sie schließlich. »Dass es dich nicht kaltgelassen hat. Wenn du nur ein einziges Mal Blumen aufs Grab gelegt hättest, hätte ich es gewusst. Aber weil du das nicht getan hast, wollte ich dich spüren lassen, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Damit auch du weißt, wie sich Verzweiflung anfühlt. Immer in dem Wissen, dass es einen Schuldigen gibt, jemanden, der für das ganze Elend verantwortlich ist. Nur deshalb habe ich dein Baby entführt. Ich wollte kein Lösegeld erpressen, aber Vincent, mein Freund, hat das anders gesehen. Und im Grunde hatte er nicht unrecht. Schließlich seid ihr reich, da wäre es nur angemessen, wenn ich ein wenig davon profitiere.«
»Ich hätte es ahnen müssen«, flüstert Ilse. »Als die Verkäuferin sagte, eine Frau mit dunklen Locken habe Luna aus dem Kinderwagen genommen, hätte mir klar sein müssen, dass du das warst.«
»Dein Kind ist wirklich niedlich, ich habe es sofort ins Herz geschlossen. Und weißt du was? Robbie mag mich auch. Wenn er weint und ich ihn tröste, beruhigt er sich sofort. Ganz so, als gehörten wir zusammen.«
Mit großen, angsterfüllten Augen sieht Ilse sie an. »Wo ist Luna? Geht es ihr gut?«
»Aber sicher. Bei mir hat Robbie alles, was er braucht. Du kannst mir übrigens dankbar sein, dass ich ihn vor Vincent beschützt habe. Er wollte ihm nämlich einen Finger abschneiden und den zusammen mit einer Lösegeldforderung an euch schicken. Aber das ging mir natürlich zu weit.«
Ilse starrt Nathalie entgeistert an. »Wo ist Luna?«, stößt sie hervor.
»An einem sicheren Ort. Und gar nicht weit weg von hier. Ich könnte ihn holen.«
»Sie! Es ist ein Mädchen, Dagmar! Meine Tochter! Und sie heißt nicht Robbie, sondern Luna!«
»Mädchen oder Junge, was soll’s …« Nathalie macht eine wegwerfende Geste. »Jetzt hört
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