Am Helllichten Tag
Schritten geht sie zum Parkplatz, wo Robbie im Auto auf sie wartet. Auf sie, sie ganz allein.
40
Schon von Weitem hört sie ihn schreien und sieht, dass sich um ihr Auto herum eine kleine Menschentraube gebildet hat.
Als sie darauf zugeht, treffen sie wütende Blicke. Ein älterer Herr sagt, er habe soeben die Polizei gerufen, denn das sei Kindesmisshandlung.
»Wie können Sie Ihr Baby nur bei der Hitze im Auto lassen!«, empört sich eine junge Frau.
»Ich war nur kurz weg, und außerdem ist das Fenster doch offen«, antwortet Nathalie gereizt.
Sie steigt rasch ein und schlägt die Tür hinter sich zu. Ohne auf die Leute zu achten, die sich jetzt noch mehr ereifern und sie eine Rabenmutter nennen, setzt sie zurück und verlässt dann den Parkplatz.
Auf dem Weg zur Autobahn kocht sie vor Wut, nicht nur auf Ilse, sondern auch auf sich selbst, weil sie sich von dem heuchlerischen Gewäsch hat einlullen lassen.
Erst nach ein paar Kilometern Fahrt beruhigt sie sich ein wenig.
Ihr Blick fällt auf das unförmige Handy, das sie auf den Beifahrersitz gelegt hat. Das Telefon von Ilses Mann. Dabei hatte Ilse selbst eines. Was hat es dann mit dem hier auf sich?
Ein böser Verdacht ergreift von ihr Besitz wie ein langsam wirkendes Gift.
Ja, so muss es sein: Irgendwie ist die Polizei ihr auf die Spur gekommen und hat Ilse informiert. Mit Sicherheit hat sie schon auf eine Meldung von ihr gewartet. Und dieses merkwürdige Ding ist ein Teil des Plans. Sie muss es schleunigst loswerden!
Ein schneller Blick in den Rückspiegel: Zum Glück ist noch kein Polizeiauto mit Blaulicht und Sirene in Sicht. Im nächsten Moment fällt ihr ein, dass die Polizei ja auch Zivilwagen hat.
Die Sesamstraßenlieder, die sie für Robbie eingelegt hat, zerren an ihren Nerven. Sie umklammert das Lenkrad.
Am liebsten würde sie das Telefon einfach aus dem Fenster werfen, doch damit ist sie noch längst nicht außer Gefahr.
Ein Schild kündigt die nächste Ausfahrt an. Nathalie fährt auf der mittleren Spur weiter und beobachtet im Rückspiegel den Verkehr hinter sich.
Noch zweihundert Meter bis zur Ausfahrt, hundert, fünfzig. Erst im allerletzten Moment reißt sie das Steuer nach rechts.
Ihr Hintermann hupt und zeigt ihr im Vorbeifahren den Vogel.
Nathalie registriert es kaum. Sie kontrolliert, ob noch weitere Wagen die Ausfahrt nehmen. Kein einziger.
Sie nimmt das Tempo zurück und atmet ein paarmal tief durch. Es hat geklappt, fürs Erste ist sie in Sicherheit. Nun rasch das Handy wegwerfen.
Sie fährt eine Allee entlang. Sie ist von Radwegen gesäumt, und rechts verläuft ein breiter Wassergraben. Ein Stück vor ihr springt die Ampel auf Gelb. Sie bremst und hält an.
Niemand zu sehen.
Hastig steigt sie aus, rennt über den Radweg und wirft das Handy in den Graben. Zufrieden sieht sie zu, wie es versinkt.
Sie läuft zum Auto zurück.
Grün.
Nathalie fährt weiter. Dann einmal um den Kreisverkehr und wieder zurück zur Autobahn.
Dort konzentriert sie sich auf die Wagen hinter ihr. Erst als sie die Autobahn verlässt, ohne dass ihr ein verdächtiges Fahrzeug aufgefallen ist, entspannt sie sich ein wenig.
Die Sesamstraße- CD ist zu Ende und Nathalie heilfroh, als Ernies Quietschentchenlied verklingt.
Sie schaltet das Radio an. Weil Robbie lautstark protestiert, bekommt sie nicht alles mit. Ihr eigener Name ist gefallen, und jetzt heißt es: »… diese Frau gesehen haben, dann nehmen Sie bitte Kontakt mit der nächsten Polizeidienststelle auf.«
Schweißflecke bilden sich unter ihren Achseln. Nun bleibt keine Zeit mehr für irgendwelche Spielchen mit Ilse. Sie muss das Land verlassen, und zwar möglichst schnell. Ob die Polizei von dem Haus in Brabant weiß?
Nathalie fährt langsamer, ist unschlüssig, was sie tun soll. Das Haus ist seit Jahren ihre Zuflucht, und Vincent hat es im Lauf der Zeit für Notfälle aller Art ausgerüstet. Im ehemaligen Stall liegen diverse Nummernschilder für Fluchtautos, im Keller lagern haltbare Lebensmittel und, in Kisten verpackt, Waffen aller Art, gefälschte Pässe und Perücken. Vor allem Letztere braucht sie dringend, um der Polizei nicht in die Hände zu fallen.
Am Straßenrand taucht ein Schild mit der Aufschrift Oisterwijk auf, also ist sie bald am Ziel.
Aber was dann? Kann sie es riskieren, ins Haus zu gehen? Was, wenn Vincent da ist? Nun da ihre Identität bekannt ist, wird ihr wohl nichts anderes übrig bleiben. Ohne falsche Papiere und ohne Verkleidung hat sie keine
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