Am Helllichten Tag
er jedenfalls auf seinen neuen Namen.«
Ilse stöhnt gequält auf, dann sieht sie Nathalie flehend an. »Gib mir mein Kind zurück. Bitte, Dagmar! Ich zahle auch gern Lösegeld. Sag mir, wie viel du haben willst, dann gehen wir sofort zur Bank. Ich gebe dir alles, was auf meinem Konto ist.«
»Danke, nicht nötig. Wie schon gesagt, es ging mir nie um Lösegeld. Ich bin nicht so skrupellos, wie du denkst.«
»Nein, nein, natürlich nicht«, sagt Ilse schnell. »Ich kann gut verstehen, warum du das getan hast. Du wolltest mir eine Lektion erteilen, und ich kann dir versichern: Ich habe begriffen. Aber …« Sie verstummt, sucht verzweifelt nach den richtigen Worten.
»Schau mal.« Nathalie hat ihr Handy hervorgeholt und hält es Ilse hin. »Das Foto ist von heute Morgen. Niedlich, wie er lacht, findest du nicht auch?«
Beim Anblick ihres Kindes laufen Ilse die Tränen über die Wangen.
»Niedlich, oder? Sag schon!«, drängt Nathalie.
Ilse nickt wortlos.
»Bist du mir hierher gefolgt?«, fragt sie plötzlich. »Ich dachte eigentlich, du würdest anrufen.«
»Ich wollte lieber unter vier Augen mit dir reden. So wichtige Dinge bespricht man nicht am Telefon.« Nathalie klappt das Handy zu. »Ich wollte dir dein Kind ohnehin wiedergeben. Es gibt da nur ein Problem.«
»Welches?«
»Robbie ist ganz in der Nähe, und wenn ich ihn jetzt holen gehe, alarmierst du die Polizei.«
»Auf keinen Fall – du kannst dich auf mich verlassen.«
»Schwörst du’s?«
»Ich schwöre.« Ilse packt Nathalies Hand. »Ich tu alles, was du willst, nur gib mir mein Kind wieder. Bitte!«
Mit einem Ruck zieht Nathalie die Hand weg. »Du kriegst es ja, das hab ich doch gesagt! Warte hier, bis ich wieder da bin. Und gib mir dein Handy.«
Nach anfänglichem Zögern greift Ilse in die Jackentasche, nimmt ein schwarzes, plump aussehendes Telefon heraus und reicht es Nathalie.
»Was ist denn das für ein vorsintflutliches Teil?« Misstrauisch beäugt Nathalie das Gerät.
»Es gehört Robert, meinem Mann. Meines ist kaputt.«
Sekundenlang sehen sie sich in die Augen. »Wenn es um das Leben meines Kindes geht, gehe ich keinerlei Risiko ein. Falls du mir nicht glaubst, kannst du mich gern durchsuchen«, sagt Ilse.
»Hier in aller Öffentlichkeit? Wie würde das denn aussehen? Zeig mir deine Handtasche, los!«
Widerspruchslos gibt Ilse ihr die Tasche, die Nathalie akribisch durchsucht.
»In Ordnung«, sagt sie. »Dann hol ich ihn jetzt. Aber wenn ich mitkriege, dass du mit jemandem redest, siehst du dein Kind nie wieder. Denn eins kannst du mir glauben: Es fällt mir nicht leicht, ihn wieder herzugeben.«
Ilse bringt vor Aufregung kein Wort heraus, sie nickt nur.
Nach kurzem Schweigen steht Nathalie auf. Sie hatte zwar immer vor, das Kind zurückzugeben, aber dass sie sich so schwer von dem Kleinen trennen würde, hätte sie nicht erwartet. Wenn Robbie nachher wieder bei seiner Mutter ist, hat sie niemanden mehr, keinen, der sie mag, keinen, der sie braucht. Sie wird einsamer sein als je zuvor.
Langsam geht sie davon. Bevor sie am Ende einer Reihe von Läden um die Ecke biegen muss, wirft sie noch einen Blick zurück. Ilse sitzt regungslos vor der Eisdiele, starrt vor sich hin und spricht mit niemandem.
Nathalie geht weiter, doch plötzlich bleibt sie abrupt stehen.
Woher wusste Ilse, dass sie Kontakt mit ihr aufnehmen würde? Sie hat doch vorhin gesagt, dass sie eigentlich mit einem Anruf von ihr gerechnet habe. Ihr musste also klar gewesen sein, dass sie, Nathalie, das Kind entführt hat. Trotzdem hatte sie anfangs so getan, als würde sie sie nicht erkennen.
Sie will dich reinlegen, meldet sich eine innere Stimme. Sie hat gesagt, was du hören wolltest, und um ein Haar wärst du drauf reingefallen. Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel – sie kooperiert mit der Polizei, ganz bestimmt!
Nathalie kehrt um und späht um die Ecke.
Ilse sitzt nach wie vor allein auf der Bank, aber sie hat etwas in den Händen, halb zwischen den Beinen versteckt. Also hatte sie doch ein Handy und schreibt jetzt eine SMS .
Ein weiß glühender Wutblitz durchzuckt Nathalie. Sie hat bereits die Hand gehoben, um das schwarze Telefon gegen die Wand zu schleudern, reißt sich aber im letzten Moment zusammen – so würde sie nur Aufmerksamkeit erregen.
Sie zwingt sich zur Ruhe. Mit einer Mutter, die sein Leben aufs Spiel setzt, ist Robbie nicht gedient. Bei ihr hat er es besser – sie wird alles für ihn tun und ihn beschützen.
Mit festen
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