Am Helllichten Tag
halten? Na gut, gleich hat es einen Grund zu plärren.«
Zu Nathalies Entsetzen ging er auf die Couch zu, wo Robbie nach seinem Fläschchen schrie.
»Nein!«, rief sie, aber Vincent ließ sich nicht beirren. Als er die Hand nach dem Kind ausstreckte, packte sie seinen Arm. Er wollte sie abschütteln wie eine lästige Fliege, doch sie klammerte sich regelrecht an ihn. Schließlich stieß er sie so grob von sich, dass sie stürzte.
Sie sah, wie er nach Robbies Händchen griff und das Messer aufschnappen ließ.
In dem Moment zerriss etwas in ihr. Sie hörte ihren eigenen Schrei im Kopf nachhallen – ein Urschrei, der ihr die Kraft gab, aufzuspringen, die Lampe mit dem schweren gusseisernen Fuß zu packen und sie auf Vincents Hinterkopf niedersausen zu lassen.
Er taumelte und fiel um wie ein Sack.
Wie benommen stand sie da, die Lampe nach wie vor in der Hand und erstaunt über ihre eigene Courage.
Vor ihr am Boden lag Vincent, regungslos und heftig blutend.
Im Nachhinein tut es ihr leid, dass sie nicht noch ein paarmal zugeschlagen oder ihn mit seiner Pistole erschossen hat, um ihn endgültig los zu sein.
Ilse Beekman hat es gut getroffen. Sie ist mit einem erfolgreichen stadtbekannten Chirurgen verheiratet, lebt in einer Villa und kann sich mit Luxus umgeben.
Aufgewachsen ist sie in Roermond, in der gleichen Gegend wie Nathalie. Irgendwann zog Ilse um, weg aus Roermond und weg aus Nathalies Leben. Seitdem haben sie sich nicht mehr gesehen, bis Nathalie sie eines Samstags in einem Venloer Einkaufszentrum erspähte.
Aus dem eher unscheinbaren neunzehnjährigen Mädchen von damals war eine gepflegte Frau in eleganter Designerkleidung geworden, die einen Kinderwagen mit allen Schikanen vor sich her schob.
Ein Kind, dachte sie, Ilse hatte ein Kind bekommen!
Nathalie stand noch halb unter Schock, als sie beschloss, Ilse zu folgen. Die hatte sie offenbar nicht wiedererkannt. Sie betrat eine Modeboutique, stellte den Kinderwagen in einer Ladenecke ab und wandte sich den Kleiderständern zu. Nur hin und wieder warf sie einen Blick auf den Wagen.
Nachdem Nathalie sie eine Weile durchs Schaufenster beobachtet hatte, trat sie ein und spähte unauffällig in den Kinderwagen. Das Baby trug ein besticktes weißes Mützchen und schlummerte; es sah total niedlich aus, wie es so dalag, die Händchen im Schlaf zu kleinen Fäusten geballt.
Nathalie vergewisserte sich, dass Ilse ihr den Rücken zuwandte, hob dann das Baby heraus und verließ mit ihm den Laden.
Jetzt sitzt sie im Auto und wartet, Robbie nuckelt im Kindersitz hinter ihr an seinem Schnuller. Nathalie überlegt, ob sie das Kind nicht doch besser zu Hause gelassen hätte. Aber sie hat nicht den Eindruck, dass hier irgendwo Gefahr lauert; die Straße ist bis auf ein paar wenige Autos, die ihr unverdächtig erscheinen, leer.
Das Telefon der van Meerdonks wird bestimmt abgehört, aber dass das Haus unter dauernder Beobachtung steht, kann sie sich nicht vorstellen. Und falls die Polizei nach einem bestimmten Wagen Ausschau hält, dann gewiss nicht nach diesem.
Als sie vor einer Stunde aufbrach, hat sie statt des gestohlenen Citroëns vorsichtshalber Nicos roten BMW genommen, der in der Garage stand – ein Auto, das in diese noble Gegend passt und nicht auffällt, wenn es eine Zeit lang unter den Alleebäumen parkt.
Immer wieder sieht sie über den Rückspiegel zu der Villa hi nüber. Robbies Elternhaus … Dieser Gedanke versetzt ihr einen Stich. Am liebsten würde sie das Kind behalten. Auf Lösegeld kann sie – mit dem, was sie an Schwarzgeld aus Vincents Tresor hat – gut und gern verzichten, nicht aber auf Robbies vergnügtes Glucksen, wenn sie mit ihm spielt und Grimassen zieht, nicht auf die Wärme seines kleinen Körpers, wenn er sich vertrauensvoll an sie schmiegt, und nicht auf seine braunen Kulleraugen, die sie auf Schritt und Tritt verfolgen, weil er Angst hat, sie könnte weggehen.
Soll sie mit dem Kind einfach davonfahren? Irgendwohin, Hauptsache weit weg. In ein Land, wo es auch im Winter warm ist. Portugal wäre nicht schlecht, denkt sie. Dort könnte sie ein Haus am Meer mieten, mit Terrasse und einem Garten voller Olivenbäume und duftender Kräuter.
Minutenlang träumt sie vor sich hin, meint das Rauschen der Brandung zu hören und den Duft von Lavendel und Thymian zu riechen.
Die Sprache hätte sie bestimmt schnell gelernt, und dann könnte sie sich eine Arbeit suchen. Nichts Stressiges, eher einen Zeitvertreib, nur um unter
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