Am Horizont die Freiheit
Übeltäter das Machtvakuum nutzten und die sich zurückziehenden französischen Truppen plünderten.
Carles wurde in einen derartigen Tumult verwickelt, als er unter dem Vorwand des Theologiestudiums zum Haus seines Geliebten lief. Auf seinem täglichen Weg gab es einen Wachposten, und die Soldaten sprachen ihn oft an, ohne dass er sich um sie kümmerte. Einmal nutzten zwei von ihnen die allgemeine Unruhe, um ihn mitten auf der Straße und vor mehreren Zeugen zu vergewaltigen. Es gab keine Behörde, bei der sich Carles hätte beschweren können, und er konnte sein Unglück nur seinem Geliebten unter Tränen gestehen. Dieser geriet in Zorn, doch auch er konnte nichts tun. Die französischen Soldaten verließen am nächsten Tag die Stadt.
Für Carles war das erst der Anfang des Unglücks.
In dem Augenblick, als er beschloss, seine sexuelle Neigung offen zu zeigen, unterschrieb er sein Urteil. Er wollte seinen Vater herausfordern, obwohl er wusste, dass die allermeisten wie er dachten. Auch um die Missbilligung der anderen Leute kümmerte sich Carles nicht. Er war, wie er war, und das wollte er nicht verheimlichen.
Homosexualität war kein Verbrechen, wohl aber Sodomie. Dessen beschuldigte man ihn, als die neue Ordnung in Perpignan eingerichtet wurde. Mehrere Zeugen, die von geschäftlichen Konkurrenten seines Vaters angespornt wurden, behaupteten, sie hätten gesehen, wie er mitten auf der Straße mit französischen Soldaten herumhurte. Seine Erklärung, man habe ihn vergewaltigt, nützte ihm wenig. Die Vorurteile gegen ihn wogen schwerer als die Wahrheit. Niemand außer seiner Mutter rührte einen Finger für ihn. Sein Vater, sein Bruder und sein mächtiger Liebhaber taten nichts.
Carles schickte verzweifelte Botschaften an den Geistlichen, die dieser nicht beantwortete. Dass ihn der Geliebte im Stich ließ, zerriss ihm mehr als alles andere das Herz. Schließlich schickte er ihm eine Nachricht, in der er ihn warnte, ihr Verhältnis zu gestehen, wenn er ihm nicht helfe. Diesmal antwortete der Geistliche. Er teilte mit, Carles sei ein lasterhafter und verlogener Junge. Er habe erfolglos versucht, ihn zu verführen, und er bedauere, dass all seine Bemühungen gescheitert seien, ihn auf den richtigen Weg zu bringen. Damit würde Carles’ Wort gegen das seine stehen, das eines geachteten und mächtigen Mannes. Dieser Verrat erledigte Carles für immer. Gerade der Geistliche hatte ihn ja in die Freuden des Leibes eingeführt! Der Anwalt, den die Mutter bezahlte, konnte nichts für ihn ausrichten.
Carles wurde für schuldig erklärt. Da er minderjährig war, entging er dem Todesurteil. Stattdessen wurde er öffentlich ausgepeitscht und auf einen Rost gesetzt, bis der Richter roch, dass sein Fleisch angebrannt war. Meistens waren die bei dieser Marter erlittenen Brandwunden tödlich, aber Carles überlebte, zu seinem Unglück, wie er sagte. Die Pflege seiner Mutter und die großzügige Bestechung der Gefängniswärter, damit sie Ärzte zuließen, konnten ihm das Leben bewahren, obwohl er es mit entsetzlichen Leiden bezahlen musste.
Doch diese Strafe genügte nicht. Er sollte den Rest seines Lebens als Galeerensträfling verbringen.
Im September kam die Flotte des Admirals Vilamarí zusammen mit König Ferdinand nach Collioure. Der Monarch nahm das Roussillon offiziell in Besitz und ließ sich in Perpignan nieder. Die Honoratioren schworen ihm Treue, und das Territorium wurde befriedet. Als der König seine Aufgabe ausgeführt hatte, kehrte er am 8 . Oktober auf der
Santa Eulalia
nach Barcelona zurück. Carles, der sich von seinen Verletzungen beinahe vollständig erholt hatte, saß am Ruder, um seine Strafe zu verbüßen. Er verbrachte die Winterzeit in Barcelona. Außer den paar Tagen, an denen man das Schiff instand setzte, wie es der Jahreszeit entsprach, blieb der Junge zusammen mit den übrigen Galeerensträflingen an seine Bank gekettet. Er hatte nur ein paar Segeltücher, um sich vor der Kälte der Nacht zu schützen.
»Das ist meine doppelte Strafe«, schloss er. »Das Elend, das dieses Sträflingsleben mit sich bringt, und die Nachstellungen, die ich erdulden muss.«
»Warum zeigst du die Kerle nicht bei den Offizieren an?«
Carles lachte über die absurde Frage.
»Du hast noch nicht begriffen, wo du bist, Joan«, erwiderte er. »Ein Galeerensträfling ist nichts. Wenig mehr als eine Ratte. Die Offiziere reden nicht mit uns. Wenn du bloß das Wort an einen Vorgesetzten richtest, der höher als ein
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