Am Horizont die Freiheit
Sie waren zwei und viel stärker, doch Carles gab nicht auf.
Joan schämte sich, weil er so etwas duldete. Das war feige. Aber er wollte nicht zulassen, dass ihn seine impulsiven Regungen noch weiter von Anna und seiner Familie entfernten.
Als die Männer hinter ihnen des Spiels müde wurden, machten sie es sich bequem, um zu schlafen. Amed stützte sich auf den Mittelgang, und Carles hockte sich an den Schiffsrand. Joan versuchte zunächst, sich auf die Bank zu legen, doch das Stampfen des Schiffs setzte ihn der Gefahr aus, ihn herunterzuschleudern. Schließlich streckte er sich auf den Planken aus. Sie waren feucht, es gab nicht genug Platz, und er stieß gegen Ameds Beine und gegen Carles. Es war schwierig, eine bequeme Haltung zu finden, und zum Knarren der Schiffsplanken kam das Kettenklirren der Ruderknechte hinzu, wenn sie sich bewegten. Endlich versank er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er oft erwachte. Einmal stellte er fest, dass Carles fast auf ihm lag. Er schlief. Sein erster Impuls war, ihn heftig wegzustoßen. Doch sosehr es ihm auch widerstrebte, der Junge weckte in ihm zärtliche Gefühle, und er schob ihn sanft beiseite.
»Unter Männern bin ich eine halbe Frau und unter Frauen ein halber Mann«, gestand ihm Carles am dritten Tag in einer Ruderpause.
Joan betrachtete seine hellblauen Augen und seinen schwermütigen Gesichtsausdruck, während er über den Satz nachdachte.
»Ich erleide eine doppelte Strafe«, sprach der Junge weiter. »Die Galeerenstrafe und die Strafe, dass ich von Männern, die ich nicht begehre und die mich anekeln, wie eine Hure behandelt werde.«
Joan sagte nichts und wartete, dass Carles weitersprach.
»Du bist stark, du wirst überleben«, erklärte der Junge. »Aber ich halte nicht lange durch. Ich werde hier sterben.«
»Warum hat man dich verurteilt?« Joan wollte das Thema wechseln.
»Als Sodomit.«
»Dann bist du …?«
»Sie haben mich vergewaltigt.«
Carles erzählte ihm seine Geschichte. Sein Vater war ein angesehener Kaufmann in Perpignan, und schon seit seiner Kindheit zeigte Carles ein weibliches Wesen, das sich noch verstärkte, als er heranwuchs. Seine Glieder, die rundlicher als die der gleichaltrigen Jungen waren, bekundeten eine ungewöhnliche Zartheit. Sein Vater herrschte ihn oft an, er solle sich wie ein Mann benehmen, und obwohl er eine Zeitlang versuchte, so aufzutreten, wie man es von Männern erwartete, merkte er bald, dass dies gegen seine Natur verstieß. Von da an verstellte er sich nicht mehr. Sein Vater ging von Geringschätzung zu Ablehnung über, um ihn schließlich ganz zu ignorieren. Zum Glück hatte er einen älteren Sohn, der Geschäft und Namen erben würde. Er verhielt sich so, als gäbe es Carles überhaupt nicht. Der ältere Bruder tat das Gleiche. Der Junge litt unter ihrer Ablehnung. Er wusste, dass sie sich seiner schämten.
Seine Mutter und seine Schwester schätzten hingegen seine Empfindsamkeit und verwöhnten ihn. Die Frau litt für ihren Sohn und bemühte sich mit allen Mitteln, den Vater umzustimmen, doch ihre Bitten blieben erfolglos. Der Kaufmann wollte Carles in ein Kloster schicken, traf indes auf die entschiedene Ablehnung der Mutter, die eine beträchtliche Mitgift in die Ehe eingebracht hatte. Schließlich erklärte sich der Junge damit einverstanden, Latein und Theologie zu studieren und sich einer geistlichen Laufbahn zu widmen. Der Vater hoffte, seinem Sohn ein kirchliches Amt kaufen zu können, das ihm ein Auskommen sichern würde, so dass er ihn für immer vergessen könnte.
Carles hatte Freude an der geistigen Arbeit. Er genoss das Bücherlesen und den Unterricht seines Lehrers. Ihn erbitterte die Zurückweisung seines Vaters, und er beschloss, sich der Welt so zu zeigen, wie er war. Es gefiel ihm, dass ihn attraktive Männer anblickten, und er merkte, dass er einige von ihnen für sich einnahm. Bald darauf begann er ein heimliches Verhältnis mit einem mächtigen Geistlichen des Bistums Elna, den er durch sein Theologiestudium kennengelernt hatte. Carles vergötterte diesen charmanten und hochgestellten Weltmann, der beinahe dreimal so alt wie er war.
In jener Zeit waren das Roussillon und die Cerdaña von Frankreich besetzt. Durch den Vertrag von Barcelona gab Karl VIII . dem spanischen König Ferdinand beide Territorien zurück, und der Besitzwechsel führte zu Unruhen. Die von der alten Ordnung Begünstigten wollten ihre Pfründen bewahren, während ihre Gegner nach Rache strebten, die
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