Am Horizont die Freiheit
betete für ihn, für seine Gesundheit, wenn er am Leben war, und für seine Seele. Und auch für ihre Kinder. Wie sehr sehnte sie sich danach, sie zu sehen!
Vernazza war ein sehr schöner Ort und Elisabetta eine herzliche Freundin und Beschützerin. Trotzdem wollte sie nicht dort sterben, ohne dass sie die Ihren noch einmal in den Armen gehalten hatte. Ihre Freundin hatte gesagt, sie wolle ihr das wenige Geld borgen, das sie besitze, doch sie hatte zu große Angst. Nie war sie über die wenigen Meilen hinausgelangt, die Llafranc von Palafrugell trennten, und nach der grausamen Fahrt, die sie nach Vernazza brachte, war sie von dort nie weggekommen. An jedem Morgen sagte sie sich, dass sie vielleicht am nächsten Tag den Mut aufbringen könnte, um ihre Freundin um das Geld zu bitten und an Bord eines Schiffes nach Genua und dann nach Spanien zu fahren. Sie seufzte tief.
»Eulalia!«, schrien die kleinen Kinder, die die Gruppe anführten.
Joan schnaufte, weil der Aufstieg so steil war. Zwei Terrassen weiter oben erblickte er eine Frau. Sie stellte einen Korb mit schwarzen Trauben auf den Boden, damit sie an den Rand der Mauer treten konnte, zusammen mit zwei Burschen, die ihr offenbar halfen. Der junge Mann erkannte sofort ihre Gesichtszüge mit den dunklen Augen und den zarten Lippen wieder, obwohl sie nun Falten und graue Haare hatte. Sie war es! Reglos, ohne ein Wort, blieb Joan stehen. Er hatte einen dicken Kloß im Hals und fragte sich, ob ihn seine Sinne täuschten.
»Eulalia!«, rief keuchend die Frau, die hinter Joan herlief.
»Was gibt es, Elisabetta?«, fragte sie. Der Zug, der den Berghang hinaufkam, überraschte sie.
Danach blickte sie Joan fest an, der sich einige Stufen weiter unten befand.
»Das ist dein Sohn!«, schrie die halberstickte Elisabetta von hinten.
Eulalia blickte ihn lange an, wobei sich ihre Miene veränderte.
»Joan!«, rief sie endlich und breitete die Arme aus. »Bist du es?«
»Ja, Mutter«, sagte er. Er stieg die fehlenden Stufen hinauf und rannte zu ihr, um sie zu umarmen.
Diese Umarmung wog eine elfjährige Trennung und Verwaisung auf. Joan spürte die Wärme und Zärtlichkeit seiner Mutter. Sie erschien ihm klein, wenn er sie mit seinen Erinnerungen verglich. Der Panzer, mit dem er sein kindliches Herz während so vieler Jahre gegen die Angriffe abgeschirmt hatte, zerschmolz und platzte unter Tränen in den Armen seiner Mutter. Auch Eulalia weinte, während sie zugleich versuchte, ihn zu trösten.
»Alles ist gut«, sagte sie schließlich und streichelte ihm die Wange. »Endlich sind wir zusammen.«
»Sie umarmen sich! Es ist ihr Sohn!«, schrien die Kleinen zu denen hinüber, die weiter unten auf den Steintreppen standen.
Während der kräftige, wie ein vornehmer Herr gekleidete junge Mann in ihren Armen wie ein Kind schluchzte, blickte Eulalia mit tränenüberströmten Augen zum blauen Himmel und dankte Gott.
Danach kamen ihre überstürzten Fragen und die schreckliche Trauer, als sich ihre Ahnung bestätigte, dass ihr Mann tot war. Die Nachricht, dass Gabriel in Barcelona ein gutes Handwerk erlernt hatte und dass er bald eine Familie gründen würde, bereitete ihr große Freude. Sie weinte, als sie vom Tod Isabels, ihres Säuglings, erfuhr. Eulalia stellte ihrem Sohn ständig weitere Fragen. Sie wollte alles wissen, was in diesen Jahren geschehen war, und ein Strudel unterschiedlicher Gefühle erfasste ihr Inneres. Die Hoffnung kehrte zurück.
»Durch ihren Charakter und ihre gute Arbeit hat Eulalia die Freiheit gewonnen«, erklärte Elisabetta bei dem Abendessen, mit dem sie ihre Wiederbegegnung feierten. »Wir waren schon Freundinnen, bevor ich verwitwete bin, und jetzt sind wir wie Schwestern. Wir haben sie gekauft, weil die Pest hier viele getötet hat. Sie konnte Netze flicken und ähnelte uns in ihrem Wesen. Doch seit einiger Zeit ist sie frei und eine von uns im Dorf.«
»Ich wusste nicht, was aus euch geworden ist, Sohn«, entschuldigte sich Eulalia. »Und als man mir die Freiheit gab, hatte ich kein Geld und auch keine Möglichkeit zurückzukehren. Hier hat man mich gut aufgenommen, und ich schreckte davor zurück, diesen Ort zu verlassen.«
Als Eulalia wenige Jahre zuvor ihre Freiheit zurückgewann, begann sie, von ihrem kärglichen Lohn zu sparen, Münze um Münze, damit sie eines Tages übers Meer fahren konnte, um nach ihnen zu suchen. Doch eine Krankheit und dann noch eine, ihre Unwissenheit, die Angst vor der Außenwelt und ihre
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