Am Horizont die Freiheit
verbittert und wurde ständig krank. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich glaube, sie wollte sterben. Nie wieder werde ich eine Sklavin kaufen.«
Joan glaubte dem Mann. Er wirkte aufrichtig. Er konnte ihn nicht hassen. Der Mann sagte ihm, wo seine Mutter begraben war, und Joan kniete den Rest des Tages vor einem Steinhaufen auf einem Friedhof, der an einem steilen Berghang lag. Es war eine mit Felsen und Pinien bedeckte Aussichtshöhe über dem blauen Meer, ähnlich der in seinem Dorf. Oben flogen die Möwen.
Mit Gebeten und Tränen erinnerte er sich an sie. Seinem inneren Auge hatten sich die Bilder von ihrem letzten gemeinsamen Abendessen fest eingeprägt. Ramón sprach das Tischgebet, und während sie aßen, erzählte er eine seiner Geschichten, die die Kleinen staunen ließen. Joan hatte sie schon einmal gehört, und er beobachtete, wie liebevoll seine Mutter dafür sorgte, dass alle aßen. Der Vater verkörperte die Außenwelt, das Abenteuer, das Neue und Erregende, und sie Schutz, Sicherheit und Liebe zu ihrer Familie. Sie verdiente Bewunderung, und in der Nacht damals fragte er sich, ob Elisenda, das Mädchen, das er eines Tages heiraten wollte, sich zu einer ebenso außerordentlichen Frau entwickeln würde.
Doch erst als er sie verlor, begriff er, wie überaus wertvoll das war, was sie ihnen allen schenkte. Sie war ihr Zuhause. Er dachte an ihr Lächeln und die Hingabe, mit der sie Isabel stillte, und wie sie ihn spüren ließ, dass sie ihn genauso liebte, obwohl sie sich um den Säugling kümmern musste. Dann sah er die brutalen Bilder ihrer Gefangennahme und wie der Einäugige sie schlug. Dann, wie er später seinen Dolch in das Herz des Elenden stieß. Was hatte man ihr auf dieser verdammten Galeere angetan? Die Geschichte, die Giuseppe erzählt hatte, versenkte ihn in unbeschreiblichen Trübsinn. Das hatte sie nicht verdient.
Er schichtete die Steine ordentlich auf, lief über die Felder und sammelte einen Blumenstrauß.
Sie verbrachten die Nacht auf dem Boot, und am nächsten Tag richtete Joan eine Totenmesse in der Sankt-Johannes-Baptist-Kirche aus und bezahlte zehn weitere für die nächsten Todestage Eulalias. Er war zutiefst niedergeschlagen. Bedrückt dachte er daran, wie er es Gabriel mitteilen sollte.
113
J oan blieb noch zwei Tage in Monterosso. Er stieg steile Wege hinauf und hinunter, betrachtete das Meer und betete auf dem kleinen Friedhof, während Bernardo und sein Sohn Gianni fischten und Niccolò mit den Nachbarn plauderte und sich die Zeit so gut vertrieb, wie er konnte. Schließlich sagte sich Joan, dass sein Kummer die Vergangenheit nicht ändern würde, und er klammerte sich an die Hoffnung, dass seine Schwester noch lebte und er sie finden könnte. Er musste die Suche fortsetzen.
Sie fuhren im Morgengrauen des fünften Tages los. Zunächst bewegten sie sich an der äußerst steilen Küste entlang, bis sie schließlich eine höchst eindrucksvolle Bastion entdeckten, die sich über einem Küstenfelsen erhob und von einem hohen zylindrischen Turm gekrönt wurde. Das war Vernazza. In Monterosso hatte man ihnen gesagt, dass es in Vernazza keine Sklaven gebe, doch Joan wollte unbedingt alle erreichbaren Informationen sammeln. Vielleicht hatte es dort früher einmal Sklaven gegeben. Er würde selbst unter den Steinen nachgraben, wenn es notwendig sein würde.
Vor ihnen öffnete sich eine kleine Bucht mit einem Sandstrand, und direkt am Wasser stand die Kirche auf einigen Felsen. Dies war ein ausgezeichneter natürlicher Ankerplatz. Außerdem mündete hier ein kleiner Bach. Die Häuser drängten sich zwischen Kirche und Festung, und die meisten stiegen an der Festungshöhe hinauf. Die Berge ragten jäh empor, und zwischen ihnen gab es zahlreiche Terrassen, die mit Wänden aus trockenem Felsen errichtet waren und auf denen Weinstöcke, Ölbäume und ein paar Mandelbäume wuchsen. Der Bach floss eingezwängt zwischen Bergen, so dass er die Gärten bewässerte. Der Ort war beeindruckend schön, was Joan jedoch kaum bemerkte. Sobald das Boot den Strand erreichte, sprang er ins Wasser. Die Leute am Ufer schauten erwartungsvoll zu, weil sie über die große Eile erstaunt waren.
»Gibt es hier eine weiße Sklavin?«, fragte er schwer atmend zwei Alte.
Die Alten sahen sich gegenseitig an, bevor sie antworteten, und danach verging eine endlos lange Zeit, bis einer von ihnen den Kopf schüttelte. »Eine Sklavin?«, fragte der andere nach. »Nein. Wir haben hier keine
Weitere Kostenlose Bücher