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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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die Stimme des Sohnes in der Pension »Suna« erinnerte: an meinen Mann, der vor zwölf Jahren ganz plötzlich spurlos verschwunden war. So hatte seine Stimme geklungen, wenn er kurz vor dem Einschlafen war. Verschwommen und kindlich. Wenn er dann meinen Namen sagte - ich heiße Kei hatte seine Stimme stets eine untergründige Süße. Oberflächlich hörte sie sich erwachsen an, aber für mich klang sie wie die Stimme eines Jünglings an der Schwelle zum Mann.
    Mein Mann war spurlos verschwunden. Und ich hatte nie wieder etwas von ihm gehört.
    Ob das, was mir folgte, ein Wesen aus dem Meer war? Mein Mann hatte das Meer geliebt.
    Ohne darauf zu achten, lief ich weiter der Landspitze entgegen. Ich geriet außer Atem. Kein Wunder, bei der Geschwindigkeit, die ich vorlegte. Bei jedem Schritt schwang die kleine Stofftasche, die ich bei mir trug, hin und her. An einem Getränkeautomaten zog ich mir einen grünen - nach kurzem Zögern - heißen Tee. Die Dose in der Hand setzte ich meinen Weg fort. Das, was mir folgte, entfernte sich.
    Zu meiner Rechten war die Sicht auf den Himmel durch einen steilen Berghang begrenzt. Über mir segelte im Tiefflug ein roter Milan. Nur über den ins Meer ragenden Felsen gewann er an Höhe.
    Wie entspannt ich nun war. Ich konnte mich kaum erinnern, wie ich die ersten zwei Jahre nach dem Verschwinden meines Mannes überlebt hatte. Ich hatte meine Mutter gebeten, bei ihr einziehen zu dürfen, und jede Arbeit, die sich mir bot, angenommen, um uns einigermaßen über Wasser zu halten. In dieser Zeit war ich Seiji begegnet. Ziemlich bald hatten wir eine Beziehung. Aber was war das überhaupt - eine »Beziehung«?
    Als Momo gerade geboren war und ich sie stillte, hatte ich mich unsagbar eng mit ihr verbunden gefühlt. Wie nah ich diesem Kind damals war! Näher sogar noch als während ich sie im Bauch trug. Es war weder Liebe noch Zuneigung. Nur Nähe.
    In Beziehungen gibt es diese Nähe nicht. Nicht, dass man sich völlig fern ist. Aber es bleibt immer eine gewisse Distanz zum anderen.
    Ein Bus fuhr an mir vorbei. Allmählich wurde ich müde. Die Bushaltestelle lag nur etwa hundert Meter vor mir, aber ich rannte nicht. Der Bus fuhr weiter, ohne anzuhalten. Nach der Haltestelle lagen wieder ein paar Fischlokale an der Straße. Auf den Dächern saßen Möwen. Nur in einem der Lokale brannte Licht, und an der Tür hing ein Schild »geöffnet«. Am Tag wirkt künstliche Beleuchtung deprimierend. Ich ging hinein.
    Ich bestellte Rossmakrelentartar.
    Der Koch hatte die Makrele nicht wie sonst üblich gehackt, sondern in kleine daumennagelgroße Stücke geschnitten, die mit Shisoblättern  (*)   und gehacktem Ingwer garniert waren. Die Masse hatte eine angenehm reichhaltige Konsistenz, sie musste eine Weile in Soja-Marinade eingelegt gewesen sein. Dazu gab es Misosuppe  (*)   aus Fischfond und eine großzügig bemessene Schale Reis. Ich aß restlos alles auf.
    Ich war der einzige Gast. Etwas griesgrämig nahm der Wirt meine Bestellung entgegen, ging zurück zur Theke, schöpfte eigenhändig Suppe und Reis in die Schalen und trug sie zu mir herüber. Als er sich vorbeugte, um das Tablett auf den Tisch zu stellen, fiel mir auf, dass ein Stück aufgerissene Naht an der Schulter seines weißen Kittels sorgfältig geflickt war.
    Das große Fenster wies zum Meer, über dem der Milan weiter seine Bahnen zog. Auch Möwen waren zu sehen. Draußen hatte ich ihre Rufe und Flügelschläge gehört, doch im Inneren des Restaurants herrschte völlige Stille. Das Verstummen der Geräusche, die ihren Flug eigentlich begleiten sollten, irritierte mich. Es war, als sähe ich einen Stummfilm.
    Stummfilme hatte ich schon mehrmals in einem Programmkino gesehen, in dem ich mit meinem Mann gewesen war. Beim ersten Mal trug ein Erzähler in pathetischem Ton die Zwischentitel vor, die sich mit den Bildern abwechselten. Beim zweiten Film gab es keinen Erzähler.
    »Mir gefällt es besser ohne«, sagte ich, und mein Mann nickte. Ihm auch.
    Neuerdings kam es vor, dass ich meinen Mann vergaß. Früher hatte ich immer sehr intensiv an ihn gedacht, und sein plötzliches Verschwinden hatte diese Intensität sogar noch verstärkt.
    Zuerst glaubte ich, es würde regnen, aber es war die Gischt.
    Allerdings war das Meer nur etwa zehn Meter entfernt, und es wehte ein heftiger Wind. Ich begann zu frösteln. Sobald man gegessen hat, wird Händen und Füßen die Wärme entzogen.
    Alles Blut strömt in den Magen, wie meine Mutter zu sagen

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