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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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zurückzuversetzen. Aber es funktionierte nicht. Der Bus kam nicht. Die Frau stand, wenn auch schwer behängt mit ihren Angehörigen, gleichmütig da.
    Als ich sie verließ, um Rei zu folgen, stellte eine andere Frau sich mir in den Weg.
    Die mit dem Muttermal am Hals.
    Sie zeigte mit dem Kinn auf Rei, der unter einer Sommerdecke schlief.
    Die Frau glitt neben ihn unter die Decke und flüsterte ihm etwas zu. Rei wachte auf und nahm sie in die Arme. Und nicht nur das, er spreizte ihre Beine und drang in sie ein.
    In seiner Eindeutigkeit war mir dies weniger unerträglich als die Situation, in der sie sich damals gegenüber saßen und sprachen.
    Körper sind austauschbarer als Gefühle.
    Zuerst wusste ich nicht, welcher Körper wem gehörte. Rei? Oder der Frau mit dem Muttermal? Doch je genauer ich hinsah, desto schwieriger wurde es, sie zu unterscheiden.
    In Wirklichkeit war ein Koitus viel nüchterner, als man es sich vorstellte. Eine klebrige, geräuschvolle, obszöne Angelegenheit, aber im Grunde immer dasselbe. Wie außergewöhnlich die Stellungen und wie heftig die Stöße auch waren, man hatte stets den Eindruck, es irgendwo schon einmal erlebt zu haben.
    Bei Gefühlen war das nicht so einfach.
    In ihnen war alles enthalten. Alles, was ich seit meiner Geburt erlebt hatte, alles, was ich bereits vergessen glaubte.
    Außerdem schlossen sie Dinge ein, die ich niemals gesehen, ja, von denen ich nicht einmal etwas geahnt hatte.
    Rei nahm die Frau von der Seite, dann diagonal, dann wieder von vorn, es war öde.
    »Das reicht« sagte eine Stimme. Es war die Frau aus Manazuru.
    »Ich bin nicht wütend«, sagte ich zu ihr. Wieder überkam mich Selbstmitleid.
    »Das ist doch alles Vergangenheit.«
    »Aber ich liebe ihn noch immer.«
    »Obwohl du ihn längst vergessen hast?«
    »Ich habe Rei nie vergessen«, widersprach ich.
    Sie lachte spöttisch. »Hast du doch. Du kommst doch nicht seinetwegen nach Manazuru, sondern nur deinetwegen.«
    Die Frau mit dem Muttermal stöhnte. Sie hatte eine schöne, laszive Stimme. Hatte ich auch so gestöhnt? Rei bewegte sich stumm und ernst.
    Es kommt mir vor, als hätte ich diesen Mann noch nie gesehen, dachte ich.
    »Siehst du, du hast ihn vergessen.« Die Frau lachte abschätzig.
    Alle Reiher flogen auf einmal auf. Beim Rauschen ihrer Flügel schauten Rei und die Frau auf. Ihre Unterkörper blieben ineinander verschlungen. Wirklich öde, dachte ich erneut.
    Neuerdings hatte ich beim Schlucken das Gefühl, dass etwas meine Kehle blockierte.
    Der Bus kam, und ich stieg ein. Die Frau saß neben mir. Zusehends entschwand die Wiese meinen Blicken. Auch die in der Dämmerung schwebende, verschlungene Silhouette von Rei und der Frau mit dem Muttermal war bald nicht mehr zu sehen.
    Der Himmel war dunkel. Sämtliche Häuser und Geschäfte waren verfallen. Der Bus fuhr durch Straßen und dann in den Wald. Die Frau und ich waren die einzigen Fahrgäste. Der Fußboden im Bus roch nach Schmieröl.
    Die Nase an die Fensterscheibe gedrückt, betrachtete die Frau die vorüberziehende Landschaft. Wie ein kleines Kind, dachte ich. In diesem Moment verwandelte sie sich in Momo.
    »Bitte nicht«, sagte ich, und sie verwandelte sich wieder zurück.
    »Dein Kind ist deine Schwäche.«
    »Hatte ich Rei wirklich vergessen?«, murmelte ich, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. »Die ganze Leidenschaft und Liebe, die mich erfüllte, war nicht auf ihn gerichtet?«
    »Ist doch egal«, sagte die Frau.
    »Werde ich sterben?« Ich griff mir an den Hals. »Komme ich so oft nach Manazuru, weil mein Tod bevorsteht?«
    »Manazuru ist kein Ort, an dem man stirbt«, sagte die Frau unwillig, während sie weiter aus dem Fenster schaute.
    Als ich mich kleinlaut entschuldigte, wich ihr Unmut, und sie betrachtete wieder begeistert die Landschaft.
    Der Bus fuhr in den dichten Wald, den sie das »Wäldchen« nannte. »Schau«, sagte sie und deutete eifrig mit dem Finger, »dort habe ich immer Holz gesammelt. Und dort zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen. Da drüben habe ich mein Kind bekommen. Und dort wurde ich nach meinem Tod begraben. Die Stelle da hinten hatte ich sehr gern, obwohl sie eigentlich nichts Besonderes an sich hat.«
    »Kann ich jetzt nie mehr zurück?«, fragte ich sie.
    »Glaube ich nicht. Du bist doch da.«
    »Wie meinst du das?«
    »Erst wenn du nicht mehr da bist, kannst du nicht mehr zurück.«
    »War das so bei Rei?«
    »Weiß ich nicht. Es geht mich auch nichts an«, erwiderte sie schroff und fing

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