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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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Haustür verschlossen zu finden, aber sie ließ sich leicht öffnen. In Schuhen betrat ich das Innere.
    Schimmelgeruch umfing mich. Mit angehaltenem Atem öffnete ich eine Schiebetür mit fast völlig zerfetzter Papierbespannung. An der Wand über der Tür hingen drei Fotografien in schmalen Rahmen. Von rechts zeigten sie eine Frau mit hochgesteckten Haaren, einen Mann in Festtagskleidung und ein Baby auf einem Futon. Die Fotos waren so angebracht, dass die drei auf diejenigen herunterschauten, die durch die Tür gingen.
    Ob das Kind auf dem Foto links vielleicht schon im Babyalter gestorben war?
    Seine großen glänzenden Augen erinnerten mich an Momo. In einer Nische des Zimmers schimmerte matt ein buddhistischer Altar. Wahrscheinlich war das Gold im Laufe der Jahre verblasst. Obwohl ich das Kind auf dem Bild gar nicht kannte, kamen mir die Tränen.
    Seit wann dieser Ort wohl so verfallen und düster war?
    Die Namensschilder an den Häusern waren abgeblättert und unleserlich. Ich durchstreifte ein leeres Haus nach dem anderen, ein Zimmer nach dem anderen, und hinterließ meine Fußspuren in den Staub bedeckten Fluren und auf den Tatami, nachdem die Bewohner ihr Leben abgeschlossen und sie verlassen zu haben schienen.
    Die Frau war nicht bei mir, obwohl sie mir am Strand noch gefolgt war.
    Auf einmal saßen auf allen Dächern Reiher. Während ich durch die Häuser ging, dachte ich an die Vögel, die nur durch die dünne Decke und den Dachstuhl von mir getrennt waren. Die reglosen, weißen Reiher waren die einzigen hellen Punkte in der düsteren, traurigen Szenerie.
    Als ich nach Rei rief, erschien er.
    »Bist du einsam?«, fragte ich. Rei lächelte ein wenig.
    »Nimm mich in die Arme.«
    Er gehorchte mir nicht. Stattdessen sah er mir in die Augen. Sein Blick war immer durchdringend gewesen, doch nun sah er mich vage und kraftlos an.
    «Kommst du zu mir?«, fragte er.
    Ich wünschte es mir. Aber dann konnte ich vielleicht nicht am Leben bleiben. Keine leichte Entscheidung. Wollte ich mit ihm gehen oder wollte ich leben? Wie sollte ich mich entscheiden?
    »Kommst du?«, fragte er noch einmal.
    »Ich würde gern.«
    »Also?« Wieder lächelte er. »Aber du hast recht. Das kann man wahrscheinlich nicht selbst entscheiden«, flüsterte er. Reis leise Stimme erfüllte mich mit Sehnsucht.
    »Aber wie hast du es denn gemacht?«
    »Tja, ich...«, sagte Rei und sah mich wieder an. Diesmal war sein Blick eindringlicher. Licht fiel in seine Augen. Ich kannte sie sehr gut. Seine Augen. Oft hatte ich mein Gesicht ganz nah an seines herangebracht und hineingesehen. Auch jetzt sah ich ihm in die Augen, in diesem Moment, im nächsten und noch im übernächsten, betete ich, dass ich sie nie vergessen würde. Ich legte meine Hände auf seine Wangen und flehte: »Bitte, geh nicht. Du musst mir gehören.«
    »Wir sind doch verheiratet«, erwiderte er verwundert.
    »Es genügt mir nicht, mit dir zusammen zu sein. Ich bin einsam, auch wenn wir zusammen sind.«
    »Es reicht also nicht, wenn ich da bin?«, sagte Rei bereits etwas gelangweilt.
    »Einfach weil du du bist, Rei, ist alles so gekommen.«
    »Du liebst mich wirklich sehr.« Rei lachte und schob mein Gesicht beiseite. Nicht unwillig, sondern liebevoll.
    Bei seiner Geste spürte ich, wie ich wieder in die andere Welt gezogen wurde.
    Mein Gefühl. Es war, als würde ich langsam durch klares Wasser auf den unbekannten Grund eines tiefen Sees sinken. Unzählige kleine Blasen stiegen neben mir auf, und auch ich wurde zu einer runden Perle, die am Ende zu Boden sank und reglos dort liegen blieb.
    Rei kannte sie nicht. Meine Gefühle. Aber ich kannte seine ja auch nicht. Ich kannte weder die Gefühle meiner Mutter noch die meines Vaters, nicht einmal von Seijis Gefühlen hatte ich eine Ahnung.
    Ich wusste nichts. Und in meiner Unwissenheit war ich hier gelandet.
    Ich nahm Reis Hand und setzte mich in Bewegung.
    Wir verließen die Wiese, durchquerten das Wasser, schwebten durch die Luft, kehrten zur Wiese zurück und gingen endlos weiter.
    Ich zog ihn an der Hand hinter mir her. Er folgte mir ruhig. Nach langer Zeit kamen wir an.
    Ich war erschöpft und ließ mich auf eine Bank am Ende der Wiese sinken. Rei setzte sich neben mich. Ich legte meinen Arm um seine Hüfte und lehnte mich an ihn. Er streichelte mein Haar.
    »Du bist älter geworden«, sagte er.
    »Bist du seit damals nicht älter geworden?«, fragte ich.
    »Ich weiß nicht. Ich kann mich ja selbst nicht sehen.«
    Von Liebe

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