Am Meer ist es wärmer
stimmt«, pflichtete er mir bei.
Der Herbstwind riss an unseren Haaren und zersauste sie. Ich überlegte, was ich am Abend kochen sollte, und hoffte nervös, die nächste Bahn würde bald kommen.
Wir waren wieder auf der gleichen Wiese, aber es war nicht Frühling und auch nicht Herbst, sondern der Sommer ging seinem Ende entgegen.
Ich hielt Rei die Frau mit dem Muttermal vor.
Er schwieg. Er versuchte nicht einmal, sich herauszureden. Ich fröstelte. Ich sah ihn an, aber er starrte nur ausdruckslos geradeaus.
Mein Rei hatte sich tief in sich zurückgezogen. Vor mir stand nur seine äußere Hülle.
Ich ohrfeigte ihn.
Er erbleichte, schwieg aber weiter.
»Die Frau hat keine Schuld«, stieß er nach einem Moment hervor.
»Liebst du mich nicht mehr?«, fragte ich.
»Lieben...«, murmelte er nachdenklich. »Dieses Wort ist mir fremd.«
Wieder fröstelte ich.
All die Worte, die wir bisher gewechselt hatten, verloren in diesem Moment ihren Sinn.
Ich klammerte mich an ihn.
Er stieß mich nicht von sich, wich aber ein wenig zurück.
Ich hatte in der festen Überzeugung gelebt, dass Momo, Rei und ich miteinander verschmolzen waren, als Familie eine harmonische Einheit bildeten.
Doch in diesem Spätsommer, auf dieser Wiese wies Rei mich zurück.
Dennoch klammerte ich mich an ihn. Ich brachte meine Lippen an sein Ohr. »Bitte, geh nicht«, flüsterte ich.
Er legte leicht die Arme um mich. Trotz dieser Geste der Nähe fühlte ich mich weiter zurückgestoßen. Obwohl - oder gerade weil - er mich umarmte, ergriff mich Verzweiflung.
»Ich lasse dich nicht gehen«, schrie ich.
Rei verstärkte den Druck seiner Arme. Hielt mich fest, als wäre ich ein tobendes Kind.
In diesem Moment sah ich rot. Hätte ich ein Messer gehabt, ich hätte auf ihn eingestochen. Das Blut wäre aus seinem Körper gesprudelt, und ich hätte darin gebadet. Ich hätte gewartet, bis der letzte Tropfen aus ihm herausgelaufen war. Dann hätte ich seinen reglosen Körper fest an mich gepresst und mein Gesicht darin vergraben.
Rei sah mich ruhig an.
Ich konnte nicht einmal weinen. Unter seinem Blick packte mich unermessliches Verlangen nach seinem Körper Hätte ich mich nur nie in ihn verliebt, dachte ich. Wäre ich ihm nur nie begegnet.
Reis Blick tat mir weh. Aber ich genoss diesen Schmerz Obwohl ich so verzweifelt und einsam war, machte er mich: glücklich.
»Rei«, sagte ich.
»Kei«, erwiderte er.
Über der spätsommerlichen Wiese schwirrte ein dichter Mückenschwarm.
In zehn Minuten fuhr der Bus. Und ich saß frierend auf einer Bank am Meer in Manazuru, wo die Mücken tanzten.
Ein Schatten traf mich.
Ich schaute nach oben. Ein großer Vogel flog über mich hinweg. Geräuschvoll teilten die weißen Schwingen den Wind.
»Ein Reiher«, sagte ich laut. Mein erstarrter Körper entspannte sich etwas.
Der Reiher flog über die Hügel hinweg und verschwand. Wieder sah ich auf die Uhr. Beide Zeiger standen auf der Zeit, um die der Bus in zehn Minuten abfahren sollte. Der Sekundenzeiger bewegte sich.
Der Reiher kehrte zurück, aber er war nicht allein, ein zweiter Reiher war bei ihm. Sie ließen sich auf zwei benachbarten Dächern am Berghang nieder. Reglos saßen sie da, die langen Beine leicht angewickelt, als wollten sie für immer dort verharren.
Die Hälfte der Dachziegel war abgestürzt, zwischen den verbliebenen hatte sich Moos angesiedelt, und hier und da sprossen Gräser. Die halb aus der Führung gerissenen hölzernen Läden moderten vor sich hin.
In den ersten zehn Jahren wirkt ein unbewohntes Haus nur leer, aber danach entwickelt es ein Eigenleben. Durch die zerbrochenen Scheiben klettert Efeu ins Innere. Hier war ein Großteil der Blätter braun und welk, aber auch ein paar frische grüne rankten sich darunter hervor.
Risse durchzogen die schmutzig grauen Außenmauern wie eine Zeichnung. Doch es lag nicht an dem wuchernden Efeu und dem Gras auf dem Dach, dass das verfallene Haus ein Eigenleben zu haben schien.
Ich erhob mich und ging auf eines der Häuser zu, auf dem ein Reiher saß.
Die beiden Vögel blickten von ihren getrennten Dächern in entgegengesetzte Richtungen. Sie hatten weiße Flügel und schwarze Schnäbel. Die Krallen, mit denen sie sich festhielten, waren gelb.
Ich stieß das von Insekten zerfressene Tor auf. Die Scharniere brachen, und das Tor fiel langsam und quietschend ab. Der Garten war gar nicht so verwildert. Nur ein paar magere und kurze Gräser bogen sich im Wind.
Ich hatte erwartet, die
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