Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Rechtsrahmen ab.
Performativ zeichnet und verwandelt dieser Zorn Niobe und macht sie zum schuldigen Subjekt, das zu Stein wird. Das Gesetz versteinert so das Subjekt und hält das Leben im Augenblick der Schuld an. Niobe lebt zwar weiter, aber in diesem Leben festgebannt: Sie wird auf Dauer schuldig, und die Schuld verwandelt das Subjekt, das sie trägt, zu Stein. Die Vergeltung der Götter an ihr ist offenbar endlos, genau wie ihre Sühne. In gewisser Weise steht sie für die Ökonomie der endlosen Vergeltung und Sühne, die, wie Benjamin an anderer Stelle sagt, zur Sphäre des Mythos gehört. 75 Niobe ist in und durch Schuld erstarrt, aber sie ist voll Trauer und weint unaufhörlich aus dieser versteinerten Quelle. Die Strafe bringt das an das Gesetz gekettete Subjekt hervor – rechenschaftspflichtig, der Strafe ausgesetzt, bestraft. Niobe würde an ihrer Schuld zugrunde gehen, würde sie nicht trauern und Tränen vergießen. Es ist also von einiger Bedeutung, dass Benjamin auf diese Tränen zurückkommt, wo er über die Entsühnung nachdenkt (vgl. KG S. 200). Niobes Schuld wird zunächst von außen über sie verhängt, und es ist eine magische Kausalität, die sie für den Tod ihrer Kinder verantwortlich werden lässt. Die Kinder sterben nicht von ihrer Hand, dennoch übernimmt sie die Verantwortung für diesen Mord als Folge eines göttlichen Schlags. So scheint die Verwandlung Niobes in ein Rechtssubjekt mit der Wiederholung einer Gewalt des Schicksals in Form einer Gewalt einherzugehen, die ihrem eigenen Handeln entspringt und für die sie als Subjekt die direkte Verantwortung übernimmt. Subjekt unter diesen Bedingungen sein, heißt, die Verantwortung für eine Gewalt tragen, die dem Subjekt vorhergeht und deren Wirkung durch das Subjekt verschleiert wird, das die erlittene Gewalt seinem eigenen Tun zuschreibt. Die Entstehung des Subjekts, das das Wirken der Gewalt verschleiert, indem es sich selbst zur alleinigen Ursache seines Leids macht, ist somit eine weitere Wirkung dieser Gewalt.
Interessant ist nun, dass das Schicksal zwar die Art der Rechtsentstehung kennzeichnet, aber nicht zeigt, wie das Recht oder der Gesetzeszwang im Besonderen überwunden und zerstört werden kann. Das Schicksal führt vielmehr die Zwangsbedingungen des Gesetzes ein, indem es das Subjekt der Schuld erscheinen lässt; es bindet das Subjekt an das Gesetz, macht es zur alleinigen Ursache dessen, was ihm widerfährt und verstrickt es tief in eine von Schuld beherrschte Rechenschaftspflicht. Auf das Schicksal ist auch die ewige Trauer dieses Subjekts zurückzuführen, aber das Streben nach der Überwindung dieser Zwangslage hat für Benjamin nichts mit dem Schicksal zu tun. Um dies zu verstehen, muss man den Schritt vom Schicksal zu Gott oder vom Mythos – der Sphäre, zu der das Schicksal gehört – zum Göttlichen tun, zu jener Sphäre, zu der eine gewisse gewaltlose Zerstörung gehört. Es wird zwar nicht ganz klar, worin genau diese gewaltlose Zerstörung besteht; für Benjamin scheint sie es jedoch zu sein, die sich gegen den Rechtsrahmen selbst wenden und sich damit von der mit dem Recht verbundenen und von ihm ausgehenden Gewalt unterscheiden würde.
Ziemlich abrupt erklärt Benjamin dann gegen Ende seines Essays die Vernichtung der Rechtsgewalt zur Aufgabe (KG S. 199). Unklar bleibt jedoch, ob diese Gewalt von ganz bestimmten Rechtssystemen oder eher vom Recht als solchem ausgeht. Seine Überlegungen bleiben hier so allgemein, dass der Leser annehmen muss, das Problem liege für ihn im Recht als solchem. Wenn er die Vernichtung aller Rechtsgewalt für unumgänglich erklärt, scheint er das zu einem Zeitpunkt und in einem Zusammenhang zu schreiben, der im Essay nicht klar abgrenzbar ist. An früherer Stelle hatte er unterschieden zwischen dem politischen Generalstreik, der rechtsetzend ist, und dem Generalstreik, der die Staatsmacht zerstört und mit ihr die Zwangsgewalt, die die Gesetze bindend macht, der also die Rechtsgewalt als solche zerstört. Diese Form des Streiks, schreibt er, ist destruktiv, aber gewaltlos (KG S. 194). Schon hier fasst er eine gewaltlose Form der Zerstörung ins Auge. Am Ende seines Textes finden sich dann Überlegungen zu Gott, an dem diese gewaltlose Form der Destruktion verdeutlicht und verständlich gemacht werden soll. Man könnte tatsächlich Gott mit dem Generalstreik in Verbindung bringen, da beide als destruktiv und zugleich gewaltlos betrachtet werden, und ebenso mit dem, was
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