Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Benjamin als Anarchismus bezeichnet, nicht aber mit der Rechtsetzung. Denken wir also an Gott als denjenigen, der durch Moses das Gesetz gibt, dürfen wir nicht vergessen, dass das Gebot nicht dasselbe ist wie positives Recht, das sich mit Zwangsmitteln durchsetzt. Das Gebot als Form des Gesetzes ist frei von Zwang und nicht durchsetzbar.
Wenn das Göttliche in der göttlichen Gewalt weder gesetzgebend noch rechtserhaltend ist, müssen wir uns fragen, wie das Gebot und wie insbesondere dessen politisches Äquivalent zu verstehen ist. Für Rosenzweig ist das Gebot ausdrücklich von Rechtsgewalt und Zwang geschieden. 76 Wir stellen uns den Gott Moses’ als gesetzgebend vor, aber diese Gesetzgebung ist für Benjamin keine Rechtsetzung. Das Gebot eröffnet vielmehr eine Sicht auf das Recht, die schließlich zur Vernichtung des Rechts als bindendes Zwangsrecht führt. Es könnte merkwürdig scheinen, das Gebot als Moment göttlicher Gewalt zu begreifen, umso mehr als das von Benjamin herangezogene Gebot gerade das Tötungsverbot ist. Und wenn uns das bindende Rechtssystem nun von Rechts wegen zum Töten auffordert? Wäre das Gebot, das sich gegen die Legitimität dieses Rechtssystems wendet, dann eine Art Gewalt gegen die Gewalt? Für Benjamin besitzt diese göttliche Gewalt die Macht zur Vernichtung der mythischen Gewalt. Gott ist der Name für das, was dem Mythos entgegensteht.
Zu bedenken ist nicht nur, dass die göttliche Gewalt die mythische Gewalt vernichtet, sie entsühnt auch. Die göttliche Gewalt wirkt auf die Schuld ein, indem sie deren Folgen zu tilgen sucht. Die göttliche Gewalt wirkt auf die Rechtsetzung und die gesamte Sphäre des Mythos ein und sucht jene Zeichen von Fehlverhalten im Namen einer Vergebung zu tilgen, die nie menschliche Form annimmt. Die göttliche Macht agiert also, sie zerstört,kann dies aber erst, nachdem die mythische Macht das schuldige Subjekt, das strafbare Vergehen und einen Rechtsrahmen für die Bestrafung hervorgebracht hat. Interessanterweise verschuldet der jüdische Gott für Benjamin nicht und ist daher auch von den Schrecken der Maßregelung geschieden. Die göttliche Gewalt ist »auf unblutige Weise letal«. Sie führt ihren Schlag gegen die Ketten des Rechts, die den Körper erstarren lassen und in endlose Trauer zwingen, nicht jedoch, so Benjamin, gegen die Seele des Lebendigen. Tatsächlich handelt die göttliche Gewalt gerade im Namen der Seele des Lebendigen. Und die Seele des Lebendigen muss es demnach auch sein, die durch jenes Recht gefährdet ist, das seine Subjekte durch Schuld lähmt. Diese Schuld droht zu einer Art Seelenmord zu werden. Mit der Abgrenzung der Seele des Lebendigen vom »Leben« selbst wirft Benjamin die Frage auf, welcher Wert dem Leben noch bleibt, wenn die Seele zerstört ist.
In der Frage, was zur Wende gegen die Rechtsgewalt führt, zur Pflicht, die Rechtsgewalt zu vernichten, verweist Benjamin auf »die Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens« (KG S. 200). In »Goethes Wahlverwandtschaften« stellt er klar, dass eine »natürliche« Schuld nicht ethischer Art und nicht die Folge eines Fehlverhaltens ist: »Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im Menschen wird sein natürliches Schuld, ohne dass es im Handeln gegen die Sittlichkeit fehle. Denn nun steht es in dem Verband des bloßen Lebens, der am Menschen als Schuld sich bekundet.« 77 In »Zur Kritik der Gewalt« geht er nicht auf dieses »natürliche Leben« ein, spricht aber vom »bloßen Leben« und schreibt: »Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst, die göttliche reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen.« (KG S. 200) Positives Recht grenzt demnach das Leben um seiner selbst willen ein, während die göttliche Gewalt nicht das Leben als solches, sondern das »Leben um des Lebendigen willen« schützt. Wer gehört zu diesem »Lebendigen«? Nicht jeder, der am Leben ist, kann in diesem Sinn lebendig sein, da die Seele des Lebendigen etwas anderes ist und da, was »um des Lebendigen willen« getan wird, sehr wohl die Beendung seines bloßen Lebens bedeuten kann. Deutlich scheint das beispielsweise in Benjamins Verweis auf Korah als Exempel göttlicher Gewalt. In dieser biblischen Szene wird eine gesamte Gemeinschaft durch den Zorn Gottes ausgelöscht, weil sie seinem Wort untreu wurde (KG S. 199).
Mit einiger Bestürzung stehen wir dann vor der Frage, ob das Gebot »Du sollst nicht töten« dem Schutz des
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