Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
natürlichen Lebens oder dem Schutz der Seele des Lebendigen dient und wie es beide auseinanderhält. Leben selbst ist kein notwendiger oder zureichender Grund für Widerstand gegen positives Recht, während die »Seele« des Lebendigen sehr wohl ein solcher Grund sein kann. Widerstand kann um des Lebendigen willen erfolgen, das heißt für jene, die kraft dieser aktiven oder lebendigen Seele am Leben sind. Schon früher hatte Benjamin geschrieben: »Ganz entschieden ist das naturrechtliche Missverständnis abzuwehren«, wonach der Sinn der Unterscheidung zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt »in der Unterscheidung von Gewalt zu gerechten und ungerechten Zwecken« bestehe (KG S. 182). Die Gewalt, die er als »göttliche« bezeichnet, ist nicht durch Zwecke gerechtfertigt, sondern ist »reines Mittel«. Das Gebot »Du sollst nicht töten« kann nicht Gesetz sein wie die Gesetze, die vernichtet werden. Es muss selbst eine Art der Gewalt sein, die der Rechtsgewalt auf die gleiche Weise entgegensteht wie sich das dem positiven Recht unterstehende bloße Leben von der Seele des Lebendigen unterscheidet, an die sich das göttliche Gebot richtet. In einer merkwürdigen Wendung scheint Benjamin das Gebot »Du sollst nicht töten« als Gebot zu verstehen, nicht die Seele des Lebendigen zu töten und damit als Aufforderung zur Gewalt gegen das positive Recht, das gegen die Seele des Lebendigen gerichtet ist.
Ein Beispiel für den Übergriff des positiven Rechts auf das bloße Leben ist die Todesstrafe. In seiner Gegenstellung gegen die Rechtsgewalt wäre nun zu erwarten, dass Benjamin sich gegen die Todesstrafe als rechtlich sanktionierten Gewaltakt wendet, in dem die ganze Gewalt des positiven Rechts uneingeschränkt zum Ausdruck kommt. Dem Gesetz, das ein Subjekt zum Tode verurteilen kann und verurteilt, steht das Gebot als eine Art Gesetz gegenüber, das ein gewisses Leben vor einer solchen Strafe bewahren soll. Aber was für ein Leben? Eindeutig kein schlicht biologisches Leben, sondern der von der Schuld verursachte todesähnliche Zustand Niobes, ihr versteinertes Leben mit seinen endlosen Tränen. Aber die Entsühnung Niobes geschähe im Namen des Lebens, und das wirft die Frage auf, ob die Entsühnung von der Schuld in irgendeiner Weise Beweggrund oder Zweck des Aufstandes gegen die Rechtsgewalt ist. Werden die Bande der Rechenschaftspflicht gegenüber einem Rechtssystem, das sich das Vorrecht der Todesstrafe vorbehält, durch einen Aufstand gegen den Rechtszwang als solchen durchbrochen? Ist es ein Anspruch des »Lebendigen«, der zum Generalstreik führt, durch den die Schuld gesühnt wird, die das Subjekt an die Rechtsgewalt bindet? Der Wunsch, das Leben von einer Schuld zu entbinden, die auf einem Vertrag mit dem Staat gründet, würde zu Gewalt gegen Gewalt führen; er würde zu einer Gewalt führen, die das Leben von einem tödlichen Vertrag mit dem Recht, die die lebendige Seele vom Tod durch die versteinernde Gewalt der Schuld entbin den will . Das ist die göttliche Gewalt, die wie ein Sturm über die Menschheit zieht und alle Spuren der Schuld tilgt, eine entsühnende göttliche Kraft und damit etwas ganz anderes als Vergeltung.
Die göttliche Gewalt trifft nicht den Körper oder das organische Leben des einzelnen, sondern das vom Recht geformte Subjekt. Es reinigt den Schuldigen nicht von Schuld, sondern von seiner Verstrickung in das Recht und löst damit die Bande der Rechenschaftspflicht, die sich aus der Herrschaft des Rechts selbst ergeben. Benjamin stellt diese Verbindung ausdrücklich her, wenn er von der göttlichen Gewalt als »reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen« spricht (KG S. 200). Die göttliche Gewalt ist ein entsühnendes Moment; sie schlägt ohne Blutvergießen. Die Trennung des Rechtsstatus vom Lebendigen (das als solches der Ketten des positiven Rechts ledig wäre) ist Folge eben dieses Schlags, und zwar eine unblutige Folge.
Ist diese Gewalt aber tatsächlich unblutig, wenn sie die Vernichtung von Menschen beinhalten kann, wie im Fall der Rotte Korah, oder wenn sie auf einer fragwürdigen Unterscheidung zwischen einem natürlichen Leben und der Seele des Lebendigen gründet? Enthält diese Vorstellung der »Seele des Lebendigen« vielleicht einen stillschweigenden Platonismus? Ich würde sagen, dieser Begriff der Seele hat nicht die Bedeutung einer Idee, da diese Seele ja eben den Lebendigen zugehört, und ich hoffe, das im Folgenden auch zeigen
Weitere Kostenlose Bücher