Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
geradezu nach Entsühnung, während die Verschuldung für Benjamin ein spezifisches Erbe der mythischen oder griechischen Überlieferung ist. Tatsächlich eröffnet Benjamins Essay im Ansatz die Möglichkeit, eine irrige Vorstellung zu korrigieren, die das jüdische Gesetz mit Rache, Strafe und Schuld verknüpft. Gegen den Gedanken eines mit Zwang und Verschuldung einhergehenden Gesetzes stellt Benjamin das Gebot, das lediglich zur Bemühung jedes einzelnen um den ethischen Gehalt des Imperativs anhält. Dieser Imperativ befiehlt nicht, sondern lässt seine Anwendungs- und Auslegungsmöglichkeiten einschließlich der Bedingungen offen, unter denen er abgewiesen werden kann.
Benjamin bietet eine unter anderem aus jüdischen theologischen Quellen schöpfende Kritik der staatlichen Gewalt, die jener Gewalt entgegensteht, die sich, wie er sagt, gegen »die Seele des Lebendigen« (KG S. 200) richtet. Man muss indes mit aller Umsicht vorgehen, denn es wäre falsch, hier eine »jüdische Kritik« sehen zu wollen, auch wenn sie eine bestimmte Schicht jüdischer Theologie enthält; und ganz gewiss kann man nicht deshalb von einer »jüdischen Kritik« sprechen, weil Benjamin Jude war. Lässt sich Benjamins Kritik der Gewalt sinnvoll als jüdische bezeichnen, so nur wegen einiger Quellen, aus denen sie schöpft. Vergessen werden sollte auch nicht, dass Sorel – der kein Jude war und (abgesehen vielleicht, wenn man will, von Bergson) keine spezifisch jüdischen Quellen heranzieht – einen ebenso großen Einfluss auf Benjamins Text besitzt wie Scholem oder Cohen. Benjamin bleibt hinsichtlich der Möglichkeit und Bedeutung der Gewaltlosigkeit zweideutig; ich bin aber dennoch der Auffassung, dass das Gebot, wie Benjamin es denkt, nicht nur die Grundlage für eine Kritik der Rechtsgewalt, sondern auch die Voraussetzung einer Theorie der Verantwortung bildet, in deren Zentrum die fortlaufende Bemühung um Gewaltlosigkeit steht.
Gewalt, Schicksal und das Gesetz
Bei der Erörterung des Problems der Entstehungsbedingungen staatlicher Gewalt sollten wir nicht vergessen, dass Benjamin in »Zur Kritik der Gewalt« mindestens zwei sich überschneidende Gruppen von Unterscheidungen trifft, zum einen zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt und zum anderen zwischen mythischer und göttlicher Gewalt. Seine Ausführungen über rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt finden sich im Kontext der Ausführungen zur mythischen Gewalt; sehen wir uns also zunächst diesen Kontext genauer an, um zu verstehen, worum es hier geht. Gewalt erschafft ein Rechtssystem, und diese rechtsetzende Gewalt agiert ohne Rechtfertigung. Schicksal bringt Recht hervor, manifestiert damit aber zunächst den Zorn der Götter. Dieser Zorn nimmt die Form des Rechts an, allerdings eines Rechts, das keinem bestimmten Zweck dient. Es ist reines Mittel; sein Zweck ist gleichsam diese Manifestation selbst.
Benjamin verdeutlicht das am Mythos der Niobe. Ihr Fehler war, sich als Sterbliche für größer und fruchtbarer zu halten als Leto, die Göttin der Fruchtbarkeit. Sie beleidigte Leto schwer und wollte mit ihrem Sprechakt auch den Unterschied zwischen Göttern und Menschen zerstören. Artemis und Apollo erscheinen, um Niobe für ihren empörenden Anspruch zu bestrafen, indem sie ihr die Kinder nehmen; diese Götter lassen sich im Sinne Benjamins als rechtsetzende begreifen. Diese Rechtsetzung kann jedoch nicht vorrangig als Strafe oder Vergeltung für ein Verbrechen gegen bestehende Gesetze gelten. Niobes Überhebung bedeutet für Benjamin keinen Gesetzesverstoß; wäre dem so, hätten wir anzunehmen, dass es das Gesetz bereits vor dem Verstoß gegeben hat. Niobe fordert durch ihren überheblichen Sprechakt vielmehr das Schicksal heraus. Artemis und Apollo handeln also im Namen des Schicksals oder werden die Mittel, durch welche das Schicksal instituiert wird. Das Schicksal entscheidet diesen Kampf für sich, und der Triumph des Schicksals besteht damit eben in der Rechtsetzung selbst (KG S. 199). Anders gesagt verdeutlicht die Geschichte von Niobe die rechtsetzende Gewalt, weil die Götter mit der Rechtsetzung auf eine Beleidigung reagieren. Die Beleidigung ist nicht zunächst Verstoß gegen ein bestehendes Gesetz; sie ist vielmehr Ausgangspunkt und Anlass der Rechtsetzung. Recht ist damit spezifische Folge einer zornigen Handlung in Reaktion auf eine Beleidigung, aber weder diese Beleidigung noch dieser Zorn spielen sich in einem bereits bestehenden
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