Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
zu können.
Im Namen der Lebendigen
Benjamin beginnt seine Unterscheidung zwischen dem natürlichen Leben und der Seele des Lebendigen mit dem Zugeständnis, dass die göttliche Gewalt auch vernichtend genannt werden kann, vernichtend jedoch »nur relativ, in Rücksicht auf Güter, Recht, Leben und dgl., niemals absolut in Rücksicht auf die Seele des Lebendigen« (KG S. 200). Obgleich die göttliche Gewalt durchaus Gewalt ist, »vernichtet« sie niemals absolut, sondern immer nur relativ. Wie haben wir diese Relativität zu verstehen? Und wie kann Benjamin daraus folgend behaupten, seine Auslegung beinhalte nicht, dass Menschen berechtigt seien, gegeneinander »letale Gewalt« auszuüben? Auf die Frage »Darf ich töten?« ergeht die »unverrückbare« (buchstäblich das, was nicht verrückt machen oder vom rechten Weg abbringen kann) Antwortals Gebot: »Du sollst nicht töten.« Dass dieses Gebot unverrückbar ist, heißt nicht, dass es nicht ausgelegt und sogar missachtet werden kann. Mit diesem Gebot, so Benjamin, haben die Handelnden »in ihrer Einsamkeit sich auseinanderzusetzen und in ungeheuren Fällen die Verantwortung von ihm abzusehen auf sich zu nehmen« (KG S. 201).
Im Gegensatz zur mythischen Szenerie, in der die zornige Tat zu einem Strafgesetz führt, übt das Gebot eine andere Kraft aus als die der Zeichnung mit Schuld. Das Wort Gottes, sofern es performativ ist, ist ein perlokutionärer Sprechakt, dessen Wirkung ganz und gar davon abhängt, dass er aufgenommen wird. Er wirkt nur durch seine Zueignung, die aber ganz gewiss nicht garantiert ist. Benjamin beschreibt die nicht despotische Kraft des Gebots als »unanwendbar, inkommensurabel gegenüber der vollbrachten Tat« (KG S. 200). Nicht Furcht bindet demnach das Subjekt in Gehorsam an das Gesetz. Im Fall des mythischen Gesetzes führt die Strafe zu Schuld und Furcht; Niobe steht exemplarisch für die Strafe, die jeden erwartet, der es wagt, sich mit den Göttern zu vergleichen.
Für Benjamin sieht das Gebot keine solche Strafe vor, und es mangelt ihm auch die Kraft, das ihm entsprechende Handeln zu erzwingen. Das Gebot besitzt keine Polizeigewalt. Es ist unverrückbar, es ist ausgesprochen und es ist Anlass für einen Kampf mit dem Gebot selbst. Das Gebot flößt keine Furcht ein und erzwingt kein Urteil nach getaner Tat. »Aus ihm folgt über diese kein Urteil«, schreibt denn auch Benjamin (KG S. 200). Ja, das Gebot schreibt keine Tat vor, erzwingt keinen Gehorsam und fällt kein Urteil gegen den, der es befolgt oder gegen es verstößt. Statt Urteilskriterium für ein bestimmtes Handeln zu sein, fungiert das Gebot vielmehr als »Richtschnur des Handelns«. Und was das Gebot vorschreibt, ist eine Auseinandersetzung mit dem Gebot selbst, deren Ausgang sich nicht vorwegnehmen lässt. Nach Benjamins erstaunlicher Deutung setzt man sich mit dem Gebot in der Einsamkeit auseinander.
Mit dem Gebot als ethischer Adressierung muss sich jeder einzelne ohne Orientierungsmöglichkeit an anderen auseinandersetzen. Eine Möglichkeit der ethischen Antwort ist, »von ihm abzusehen«, aber auch dafür muss man die Verantwortung übernehmen. Verantwortung wird in Bezug zum Gebot übernommen, ohne jedoch vom Gebot vorgeschrieben zu sein. Verantwortung ist klar von Verpflichtung und auch von Gehorsam abgegrenzt. Solange es ein Ringen gibt, gibt es so etwas wie Freiheit. Es steht einem nicht frei, das Gebot zu ignorieren. Man muss sich gleichsam mit sich selbst in Bezug auf es auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung kann sehr wohl zu einemErgebnis führen, zu einer Entscheidung, zu einer Tat, mit denen vom Gebot abgesehen oder das Gebot revidiert wird. Die Entscheidung ist in diesem Sinn Folge einer Interpretation, die zugleich eingeschränkt und frei ist.
Man würde nun erwarten, dass Benjamin den Wert des Lebens gegen die Gewalt zu schützen sucht und einen Begriff der gewaltlosen Gewalt in Anspruch nimmt, um den Schlag gegen die Ketten des Rechts, die Entsühnung und die Wiederaufrichtung des Lebens zu bezeichnen. Er stellt indes klar, dass, wer das Dasein dem Glück und der Gerechtigkeit vorzieht, eine »falsche«, ja »niedrige« Haltung einnimmt. Er widerspricht dem Verständnis des »Daseins« als »bloßes Leben« und sieht eine »gewaltige Wahrheit« in dem Satz, nach dem Dasein höher als gerechtes oder glückliches Dasein steht, wenn Dasein nicht zusammenfällt mit dem bloßen Leben des Menschen, sondern »den unverrückbaren
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