Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
Vom Netzwerk:
was andere gesagt hätten, hätten ihnen Sprache und Mut zu Gebote gestanden, um ihr Handeln öffentlich grundsätzlich zu begründen. Die Stimme stellt klar, dass die Nazi-Politik sich das Recht nahm zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll; sie bringt damit etwas zum Ausdruck, das die Richter mutmaßlich nicht zum Ausdruck bringen konnten oder wollten und dem sie nicht, wie Arendt, entgegentreten wollten.
    Der philosophische und politische Kern ihrer Erwiderung an Eichmann (und an die Richter) liegt darin klarzustellen, dass es kein solches Recht geben kann, darüber zu befinden, wer die Erde oder die Welt bewohnen soll (Arendt schwankt durchgängig in Bezug auf diese Unterscheidung Heideggers, ist aber der Auffassung, es gebe keine Erde ohne ihre Bewohner). 149 Das Zusammenleben mit anderen, die wir uns nie aussuchen, ist tatsächlich ein ständiges Merkmal des Menschseins. Die Ausübung eines Entscheidungsrechts läuft auf die Inanspruchnahme eines Vorrechts zum Völkermord hinaus; nur diejenigen, die Völkermord begangen haben, verdienen offenbar die Todesstrafe. Arendt begründet nicht weiter, weshalb gerade diese und keine andere Strafe angemessen ist, obgleich die Angemessenheit der Todesstrafe zu dieser Zeit kontrovers diskutiert wurde (wobei Buber und andere gegen sie waren). 150 Vielleicht sollen wir hier daran erinnert werden, dass, ebenso wie Mord nicht dasselbe wie Völkermord ist, die von staatlicher Seite verhängte Todesstrafe nicht dasselbe wie willkürlicher Mord durch Einzelne ist. Wenn hier ein solcher Vergleich im Hintergrund steht und wenn Arendt die Prinzipien ihrer Argumentation vollständig offengelegt hätte, würde vielleicht deutlich, dass sie sich auf eine moralische Typologie des Zutodebringens beruft, die die Todesstrafe (als staatlich verhängte Tötung unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen) rechtfertigen kann, während jegliche Form des genozidalen Zutodebringens, ob mit staatlicher Beteiligung oder nicht, zu verwerfen ist. 151 Eine solche Überlegung findet sich jedoch an dieser Stelle nicht. 152 Stattdessen findet sich hier eine bemerkenswerte Argumentationslücke. Sollte sich hier eine solche Argumentation finden, bleibt sie implizit, denn die Stimme, die sich die Aufgabe gestellt hat, die Rechtmäßigkeit des Jerusalemer Geschehens manifest zu machen, scheint sich in diesem Moment zurückzuhalten. Ohne Klarheit über den Unterschied zwischen Mord als Verbrechen und Völkermord als Verbrechen gegen die Menschheit lässt sich nicht verstehen, inwiefern die Todesstrafe für Eichmann etwas anderes ist als einem Menschen das Leben zu nehmen, der selbst Leben genommen hat. Wie ist eine solche Wechselseitigkeit von Vergeltung oder vom Prinzip »Auge um Auge« zu unterscheiden (»weil Sie … wollten, wollen nun alle …«)? Die Stimme argumentiert hier nicht konsistent für Vergeltung, aber sie entwickelt auch nicht wirklich ein alternatives Begründungsprinzip. Die Labilität und Gespaltenheit dieser Stimme verdankt sich vielleicht eben dieser Verbindung von zorniger und rachsüchtiger Anklage und der leidenschaftsloseren Darlegung einer Norm, die zur Entscheidung im Fall von Völkermord erforderlich ist. Ist es diese befremdliche Verbindung, die wir hören und sehen sollen? Positioniert die Stimme Arendt neben den anderen Richtern auf dem Richterstuhl, und ist diese Stimme von ganz unterschiedlichen Auffassungen bevölkert? Vergisst die Stimme, dass sie eine nur angenommene, gleichsam eine Bauchrednerstimme ist, und kohabitiert sie (gegen ihren Willen) auf eine Weise, die auf einen gewissen Kontrollverlust ihres Urhebers oder auf eine Streuung ihrer Wirkung hindeutet? Oder findet Arendt hier die rhetorische Form, die ihr eine gewisse Emotionalität und ein abschließendes Todesurteil ermöglicht, während sie zugleich den Grundsatz des eigenen Handelns in einer gemäßigteren Nebenbemerkung verbirgt? Wie sonst sollen wir diese befremdliche Inszenierung begreifen? Das Ende des Epilogs ist Texttheater, es bringt eine hybride Figur hervor, und zwar durch eine Stimme, deren Sprecher sich nie ganz offenbart.
    Arendt war gegen den Schaucharakter des Prozesses, aber es scheint, dass sie in diesem erstaunlichen Epilog selbst in das Schauspiel des Verfahrenseintritt, wenn auch nur, um sicherzustellen, dass ihre eigene Vorstellung von Gerechtigkeit nicht nur umgesetzt wird, sondern sichtbar umgesetzt wird. Mit dem rhetorischen Einsatz der direkten Anrede, dem synästhetischen Effekt

Weitere Kostenlose Bücher