Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
und der Zweideutigkeit der namenlosen Stimme erzeugt sie das textuelle Bild und den textuellen Klang des Richters, der hätte sprechen sollen, aber nicht gesprochen hat. Dabei nimmt sie die Jerusalemer Richter in ihre eigene Stimme auf und korrigiert sie nicht nur, sondern stellt sich an ihre Seite; sie gibt ihnen die Grundsätze an die Hand, die sie ihrer Ansicht nach brauchen, und sie erlaubt sich selbst in das zornige Wortgefecht einzutreten und Eichmann noch einmal zum Tode zu verurteilen – ein Akt, der offenbar trotz seiner Redundanz befriedigend ist.
Das plurale »Wir«
Arendt präsentiert sich als diejenige, die offenbar genau weiß, was die Richter hätten sagen sollen; sie spricht mit eigener Stimme und sie spricht zugleich als plurales Subjekt, als »wir«, und scheint damit als einzelne Sprecherin in den Hintergrund zu treten. Lassen sich diese beiden Züge voneinander lösen, oder bleiben sie letztlich wechselseitig ineinander impliziert und verweisen darauf, dass das Urteilen nicht einfach ein individueller Akt, sondern eine unausgesprochene oder ausgesprochene Inszenierung der Pluralität selbst ist? 153 Und wenn dem so ist, um was für eine Art Pluralität handelt es sich? Finden sich Hinweise in ihrer Verwendung des »Wir« in diesem abschließenden Urteil, die uns die philosophische und politische Bedeutung dieses Pronomens im Plural erkennen lassen?
Das von ihr in Anspruch genommene »Wir« bricht mit jeglichem »Wir« des Nationalstaats, mit jedem »Wir«, das restriktiv an eine bestimmte Nation gebunden bleibt. Aber es beschreibt auch nicht eigentlich ein anderes »Wir«, es mutmaßt lediglich dessen ideale Parameter. Ein solches »Wir« ist plural, in sich differenziert; diese innere Differenzierung bildet die Grundlage des Urteils und auch die Stimme des legitimen Urteilens. Darüber hinaus scheint diese Inanspruchnahme von Pluralität das Urteil – das praktische Urteilen in Kants Sinn – nicht als Subsumtion eines Beispiels unter eine gegebene Regel, sondern vielmehr als spontanen, ja kreativen Akt zu fassen. Arendt fordert uns auf, das menschliche Urteilen nicht als an bestehende Gesetze gebunden zu begreifen, an Standards und Regeln, unter die besondere Fälle nur subsumiert werden. Das Urteilen bringt für sie vielmehr seine eigenen Grundsätze hervor, und nur unter dieser Voraussetzung können wir uns überhaupt auf dieses unsichere Gebiet der moralischen Beurteilung begeben und hoffen, einen festen Stand zu finden.
Diese von Arendt in Anspruch genommene Pluralität ist also eine Stimme (ein textueller Modus der Anrede), die zu Eichmann und zu den Richtern spricht, jedoch für jedermann sichtbar ist, der lesen kann und lesend »sehen« kann, was hier gezeigt wird. Es ist eine Stimme, die als ein »Wir« spricht, das per definitionem in viele geteilt ist; sie bewegt sich im unerwarteten und ungreifbaren Wechsel zwischen »ich« und »wir«. Dieses selbe »Wir« ist zugleich der schwankende Boden, auf dem kein sicherer Halt zu finden ist. In gewissem Sinn ermöglicht dieser Pronomenwechsel Hoffnung: Der alles andere als ideale Richter, mit dessen angenommener Stimme dieser Text endet, ist ein Richter, den sich Arendt real wünscht, dessen Fehlbarkeit sie jedoch merkwürdigerweise wahrt. Man würde erwarten, dass Arendt mit all ihrer philosophischen Umsicht über die Richter triumphiert; stattdessen ergibt sich eine eigenartige Kohabitation. Sie nimmt die Stimme des Richters an oder entlässt sich selbst in diese Stimme; aber da ist gar kein Richter, nur ein Vollzug der Rechtmäßigkeit. Zur Debatte steht weniger die Position des Richters als der Vollzug der Rechtmäßigkeit. Und in diesem Fall wird deutlich, dass der Vollzug plural ist, bevölkert von widersprüchlichen Auffassungen, emotional und spaltend. Der Text führt keinen idealen Richter vor, sondern vollzieht die Rechtmäßigkeit als plurales Vorgehen. Er exemplifiziert keine Ideale, sondern fungiert »kritisch« in dem Sinn, dass er seine Legitimation nicht aus bestehenden Gesetzen bezieht. Da positives Recht falsch sein kann und oftmals falsch ist, wird für die Entscheidungsfindung eine Basis unabhängig von der existierenden Rechtskodifizierung gebraucht.
Man könnte erwarten, dass Arendt sich zur Begründung der Legitimität des positiven Rechts dem Naturrecht zuwendet, aber sie greift stattdessen auf ein vorrechtliches Verständnis der Verantwortung oder der praktischen Vernunft zurück. Sie tritt nicht nur für den
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