Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Vorrang der Moralphilosophie vor den Institutionen des Rechts ein, sondern verleiht der Moralphilosophie darüber hinaus einen fiktiven, performativen, spontanen und anspruchsvollen Charakter, der ihren gewöhnlichen Erscheinungsformen zuwiderläuft. Arendts abschließende Anrede ist nicht eben argumentativ: Sie urteilt im Namen einer angenommenen Pluralität. In diesem Sinn ist sie praktisch und performativ, begründet weniger in bestehendem Recht als in der Nichtexistenz eines Ideals der Gerechtigkeit, das sich vielleicht besser als Anerkennungder Gleichheit beschreiben lässt, wie sie aus ihrer Vorstellung der menschlichen Mannigfaltigkeit folgt.
Wichtig ist hier, dass Arendt mit ihrer fiktiven Todesstrafe für Eichmann keinem Gesetz folgt. Sie wirft ihm vor, bestehende Gesetze nur befolgt zu haben, statt deren Legitimität zu hinterfragen, und gründet ihr eigenes Urteil gegen ihn entsprechend nicht auf bestehendem Recht, sondern ausschließlich auf einem unabhängigen Urteil über das, was Recht sein sollte. Auf diese Weise verleiht sie dem philosophischen Denken nicht nur einen Vorrang vor der juristischen Argumentation, sondern unterscheidet auch zwischen Verantwortung und Gehorsam, ganz entsprechend der Unterscheidung von kritischem Denken und unkritischer Hinnahme von Dogma oder Vorschrift. Die eigene Verantwortung kann keine unkritische Rechtsbindung sein, da sich das Recht selbst (wie in Nazi-Deutschland) als verbrecherisch erweisen kann; in diesem Fall sind wir verpflichtet, uns gegen schlechtes Recht zu wenden, ja wir sind in diesem Fall zum Ungehorsam verpflichtet. Im Ungehorsam besteht in manchen Fällen unsere Verantwortung. Das hat Eichmann nicht begriffen.
Bei Arendt hat der Dialog des Denkens eine performative und eine allokative Dimension, der die zentrale Rolle der freien Selbstkonstitution in ihrer Haltung unterstreicht. Wenn die freie Selbstkonstitution indes ein Handeln ist, muss sie auf der Basis schon bestehender sozialer Beziehungen erfolgen. Niemand konstituiert sich selbst in einem sozialen Vakuum. Diese Vorstellung gerät hier und da in Gegensatz zur Einsamkeit des Denkens, von der Arendt spricht, an anderen Stellen wiederum nicht, insbesondere dort nicht, wo Denken als Sprechen und Sprechen als performativer Akt verstanden wird. Denken heißt nicht notwendig, über sich selbst nachzudenken, es heißt vielmehr, mit sich selbst zu denken (sich selbst als Gesellschaft in Anspruch zu nehmen und sich so des »Wir« zu bedienen) und in einen Dialog mit sich selbst zu treten (was auch bedeutet, anzusprechen und adressierbar zu sein). 154 Als Individuum zu handeln heißt in ein gemeinsames Handeln eintreten, ohne die eigene Singularität ganz aufzugeben und so zu handeln, dass der Dialog mit dem eigenen Selbst weitergehen kann; anders gesagt: Die Maxime, nach der ich lebe, ist, dass jede meiner Handlungen die Fähigkeit, mit mir selbst zu leben, fördern und nicht beeinträchtigen sollte (jede meiner Handlungen sollte die Empfänglichkeit und Hörbarkeit dieses inneren Dialogs fördern). Sofern Denken dialogisch ist, ist es eine sprachliche Übung, und das ist wichtig für meine Fähigkeit, in Gesellschaft mit mir selbst zu leben. Zwar impliziert der Dialog auch das Angesprochenwerdendurch andere (oder meine Selbstadressierung als Anderer) und verlangt daher Rezeptivität, aber Arendt denkt die dialogische Begegnung innerhalb des Selbst als aktive und performative Dimension der Selbstgestaltung. »In diesem Denkprozess, in dem ich das spezifisch Menschliche der Rede verwirkliche, konstituiere ich mich explizit als Person und ich bleibe eine solche, solange ich zu dieser Konstitution immer wieder und immer aufs Neue fähig bin.« Wer keinen Bezug zu sich herstellen kann, wer sich nicht selbst im Denken und Urteilen konstituieren kann, verwirklicht sich nicht als Person. Für diese Verwirklichung der Person ist Sprache erforderlich; interessanterweise ist dies eine stumme, einsame Sprache, jedoch keine ohne Adressaten. Jemand wendet sich an jemand anderen und diese Struktur der Adressierung enthält die rhetorische und sprachliche Bedingung sowohl des Denkens wie des Gewissens. Für Arendt konnte Eichmann sich nicht selbst ansprechen. Um angesprochen werden zu können, muss jemand da sein. Und Arendt kam zu dem Schluss, dass im Fall Eichmanns niemand da war. Tatsächlich schreibt sie in ihren Überlegungen zum Bösen an anderer Stelle bemerkenswerterweise: »Im bodenlosen Bösen ist keine
Weitere Kostenlose Bücher