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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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Person mehr da, der man je vergeben könnte.« 155
    Zwei Kernfragen bleiben hier unbeantwortet. Die erste lautet: War Arendt der Meinung, Eichmann sei von Anfang an als Person nicht dagewesen, oder glaubte sie, die Bedingungen für sein Personwerden hätten sich im Lauf der Zeit vermindert? Wenn dem so war, war er selbst dafür verantwortlich? Hat er effektiv sein Personsein aufgegeben? Wenn er das nicht aktiv selbst getan hat, ist er nur passiv an seiner Selbstkonstitution gescheitert? Spielt es überhaupt eine Rolle, unter welchen Bedingungen dieses Verschwinden der Person stattgefunden hat, oder brauchen wir nur zu wissen, dass Eichmann außerstande war, die Freiheit zu gebrauchen, die ihn zur Person gemacht hätte? Diese Fragen scheinen zunächst nicht weiterzuführen, aber klar wird doch, dass Arendt Eichmanns Verbrechen nicht durch äußere Umstände seines Lebens entschuldigt sehen will; sie geht gar nicht auf auf die äußeren Bedingungen der möglichen Personbildung und Urteilsausübung ein. Die zweite Implikation ihrer Haltung ergibt sich aus der ersten: Sie war bereit, der Todesstrafe zuzustimmen, weil sie zu dem Schluss gelangte, dass keine Person mehr da war, dass Eichmanns Handeln (oder Nichthandeln) effektiv die Vorbedingungen seines eigenen Personseins zerstört hatte.
    Arendt scheint hier einer moralischen Norm zu folgen, die Personen von Nichtpersonen unterscheidet; das scheint zu implizieren, dass diejenigen, die sich selbst nicht so konstituieren, dass ihr Handeln die Pluralität menschlicher Existenz schützt, faktisch Völkermord begangen und jeglichen Schutz vor ihrer Tötung durch den Staat verwirkt haben. Heißt das, dass die Tötung einer solchen Nichtperson nichts als eine Art Redundanz ist? Wenn der Betreffende sein Personsein bereits dezimiert hat, bekräftigt die Todesstrafe dann lediglich dieses Tun? An dieser Stelle gilt es innezuhalten und Arendts Haltung zu prüfen: Ist diese Haltung letztlich akzeptabel, hat sie die Annahme der Todesstrafe überhaupt zureichend begründet?
    Eichmann hat sich nicht selbst angesprochen, er hat sich stattdessen gleichsam in den Dienst anderer gestellt und damit unverantwortlich gehandelt. Aber Arendt spricht ihn an, spricht ihn direkt an und verdeutlicht damit, wie wir sagen könnten, die Adressierbarkeit dieses Subjekts, das sich selbst nicht adressiert hat. Ist Eichmann unerreichbar, bleibt Arendts Anrede letztlich ohne Empfänger, es sei denn, sie spricht faktisch gar nicht ihn an, sondern uns, »die Welt« der Leser, die de facto als Geschworene dieses Verfahrens (und seiner Überlieferung) fungieren.
    Macht Arendt Eichmann aber nicht zum potenziellen Gesprächspartner, indem sie ihn direkt anspricht? Und widerspricht das nicht ihrem Schluss, dass dort gar niemand ist? Tatsächlich bezieht sie Eichmann in die Sphäre des Gesprächs ein und macht ihn damit so oder so zur Person. In dem Moment, in dem sie ihn anspricht, sind beide durch Gegebenheiten der Sprache miteinander verbunden; sie gehört gemeinsam mit ihm – ja mit seinesgleichen – zu einer menschlichen Pluralität. Und dennoch schließt sie ihn mit dieser Anrede aus eben dieser Sphäre der Mannigfaltigkeit aus. Die Todesstrafe ist ein Paradigma des perlokutionären Performativs, ein Sprechakt, der unter bestimmten Bedingungen das in ihm genannte Resultat herbeiführen kann. In diesem Sinn stellen die Schlusssätze von Arendts Epilog den Vollzug eines Diskurses als Handlung dar.
    Da Arendt aber kein Richter ist, auch wenn sie ein Urteil ausspricht, unterstreicht ihr Text den Unterschied zwischen der Vermutungssphäre der Philosophie und der Sphäre des faktischen Rechts und der faktischen Politik. Die Mutmaßung, das Kontrafaktische ist von Bedeutung, weil es eine nicht-rechtliche Norm artikuliert, zu der auch rechtliche Überlegungen gelangen sollten; in diesem Sinn gehört ihre unmögliche Mutmaßung – ihre Fiktion – zum Versuch, das Recht in der praktischen Vernunft zu begründen, die ihrerseits der kritische Gebrauch des Denkvermögens ist.

Plurale Kohabitation
    Wir haben diese Überlegungen zu Arendts Werk mit der Frage begonnen, ob es Dimensionen des Denkens gibt, die uns von vornherein auf den Schutz der menschlichen Pluralität verpflichten. Die Antwort auf diese Frage wird noch schwieriger, wenn man berücksichtigt, dass Arendt selbst unterscheidet zwischen Denken als Zugehörigkeit zur abgeschlossenen Sphäre des Selbst, und Handeln, das die Sphäre menschlicher Pluralität

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