Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)
Arendts an? Lässt sich sagen, dass ein alternatives Gedächtnis die moralische Unterstützung des Völkerrechts für Goldstone und Falk gegenüber dem Nationalismus oder den Ansprüchen des Nationalstaates verlangt? Die Positionsunterschiede zwischen diesen beiden Unterstützern des Völkerrechts und die ausdrücklichen Vorbehalte der israelischen Behörden hinsichtlich Verzerrungen und Unzuverlässigkeiten im Völkerrecht offenbaren Spannungen zwischen den Universalitätsansprüchen der Gerechtigkeit und den Souveränitätsansprüchen des Nationalstaats. In Hinblick auf Israel ergibt sich daraus die Frage, ob der Nationalstaat Israel nicht nur zum Schutz seiner Bürger vor Angriffen sogenannter Terroristen berechtigt ist, sondern darüber hinaus die implizite Verpflichtung hat, die jüdische Bevölkerung gegen einen Internationalismus zu schützen, der eines grundsätzlichen Antisemitismus verdächtigt wird. Auf der Basis dieser letztgenannten Behauptung wurden Goldstone und Falk in der israelischen Presse als Juden mit Selbsthass bezeichnet. Könnte man nicht auch sagen, dass beide für eine andere Richtung des ethischen Nach-, ja Vorkriegsdenkens stehen, für das Kohabitation Grundlage des sozialen und politischen Lebens ist und für das das Völkerrecht zum Schutz nicht nur der Bürger bestehender Nationalstaaten, sondern sämtlicher Bevölkerungsgruppen verpflichtet, eingeschlossen Flüchtlinge oder kolonisierte Völker, die keine oder noch keine Staatsbürgerschaft besitzen? Mir scheint Goldstone zu dieser Zeit an eine Arendt’sche Tradition im jüdischen Denken anzuknüpfen; das heißt, dass es das Denken ist, ein normativer Rahmen, der das Schicksal des Juden mit dem des Nicht-Juden verbindet. Dieser ethische Wert der Kohabitation ist zweifellos Resultat derDiaspora, zu der Enteignung, Verfolgung und Exil gehören. Lässt er sich aber nicht auch als Forderung nach einem Völkerrecht begreifen, das auch für alle Flüchtlinge gilt? Und lässt sich der Binationalismus in dieser Hinsicht als auf einem völkerrechtlichen Ethos gründend verstehen, das keinen Unterschied macht zwischen den Ansprüchen des Flüchtlings unter einer Besatzung und des Flüchtlings im Exil?
Die Frage der Minderheiten und Staatenlosen ergibt sich so aus einer bestimmten Geschichte des Nationalstaats und seiner Verstrickung in eine rassistische Politik. Wir können das als kollektives Gedächtnis, jedoch nicht als kollektives Gedächtnis der Nation verstehen. Im Gegenteil ist dies das kollektive Gedächtnis der Menschen ohne Nation, derjenigen ohne Zugehörigkeit, die fliehen mussten oder die sich in besetzte Gebiete zurückzogen und nicht wissen, ob sie inmitten dieses Verlustes und dieser Ängste überhaupt noch Rechtsschutz genießen. Damit stellt sich unter anderem die Frage, ob das Völkerrecht mit dem Binationalismus verbunden ist und ob diese Verbindung zu einer Konzeption von Rechten führen könnte, die letztlich nicht mehr »national« sind. Denn, wie Arendt sagt, hat jeder das Recht auf Zugehörigkeit, aber die Formen der Zugehörigkeit können niemals die Grundlage unserer Rechte oder Pflichten sein. Diese nicht gewählte Nachbarschaft, dieses Gegen- und Miteinanderleben könnte sehr wohl Grundlage eines Binationalismus werden, der sich gegen den Nationalismus wendet und der sogar das Völkerrecht aus seiner stillschweigenden Bindung an den Nationalstaat lösen könnte. Das wäre eine Kohabitation, die sich an einem Gedächtnis und einer Gerechtigkeitsforderung orientiert, die aus Enteignung und Besatzung resultiert und nicht nur für zwei bestimmte, sondern für alle Völker maßgeblich ist. Das ist vielleicht nicht das, was man aus freien Stücken gewählt hätte, und dieses Zusammenleben wird alles andere als spannungsfrei sein, aber es ist notwendig und eine Pflicht.
Kapitel 8
»Was sollen wir tun ohne Exil?« – Said und Darwish an die Zukunft 188
»Wo Identität offen für Pluralität ist, keine Festung und kein Graben«
Mahmoud Darwish
Unter Edward Saids letzten Überlegungen finden sich Spekulationen, die meines Erachtens implizieren, dass der Binationalismus den Nationalismus überwinden könnte. Natürlich muss man hier von Anfang an innehalten und sich fragen: Gewiss ist der Widerstand gegen zionistische Formen des Nationalismus sinnvoll, aber wollen wir uns gegen den Nationalismus derjenigen wenden, die noch keinen eigenen Staat haben, der Palästinenser, die noch immer nach einer eigenen Nation streben,
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