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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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    Was soll das heißen? Es heißt zunächst, dass wir es mit anderen zu tun haben, die wir uns nicht ausgesucht haben und dass diese Nähe zahlreiche emotionale Folgen hat, vom Begehren bis zur Feindseligkeit, ja bis zur Kombination beider. Arendt betont immer wieder, dass Freiheit gemeinsames Handeln erfordert, wobei sie jedoch kaum darauf eingeht, dass das Zusammenleben auch mit Unfreiheit verbunden ist und wie diese Unfreiheit im Verhältnis zu der Freiheit zu denken ist, die für sie die Basis der Politik ist.
    Wenn wir jedoch die Tatsache ernst nehmen, dass wir uns nicht aussuchen können, mit wem gemeinsam wir die Erde bewohnen, gibt es eine Grenze unserer Wahlfreiheit, eine Art konstitutiver Unfreiheit, die definiert, wer wir sind, ja die normativ festlegt, wer wir zu sein haben. Es stimmt, dass wir die Erde mit anderen bewohnen, die wir uns nicht ausgesucht haben, aber daraus ergibt sich ganz gewiss eine bestimmte Menge an Aggression und Feindseligkeit inmitten dieses Zusammenlebens. Müssen wir nicht eine Art Agonismus, ja Antagonismus inmitten dieser Pluralität annehmen? Wenn wir uns die Kohabitation lediglich als politisches Ziel denken und nicht als Bedingung unserer sozialen Existenz, dann begreifen wir weder das Agonale des ungewollten Zusammenlebens noch die mit ihm einhergehende Sehnsucht, die Abhängigkeit, die Begrenzung, die Möglichkeit zu Übergriffen, Zusammenstößen und Vertreibung. Wenn es sich um das Zusammenleben lebendiger Wesen handelt, müssen wir darüber nachdenken, wie das Leben die Grenze zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem überquert. Und als verkörperte Kreaturen müssen wir auch über Fragen von Bedürfnissen, Hunger und Zuflucht als für diese Pluralität wesentliche Faktoren nachdenken; mit anderen Worten: Pluralität wäre als eine bestimmte Art materieller Interdependenz zu denken; die Fähigkeit zu leben und die Sterblichkeit sind dann auch Teil unserer sozialen Gegebenheiten. Hier stoßen wir auf den Gedanken des gefährdeten Lebens, eines Lebens, in dem ein anderen Körpern ausgesetzter Körper zu sein sowohl eine Quelle der Lust wie eine der Todesangst sein kann.
    Über den Völkermord der Nazis hatte Arendt geschrieben, dass unsere gewohnten moralischen Standards hier umgestürzt und zu Anachronismen wurden. »Zu dieser Zeit schien der Schrecken selbst in seiner nackten Monstrosität nicht nur mir, sondern auch vielen anderen alle moralischen Kategorien zu überschreiten und sämtliche Standards der Rechtsprechung zu sprengen; Menschen konnten ihn weder angemessen bestrafen noch vergeben.« Und sie fügt hinzu: »Wir mussten alles von Grund auf neu lernen, gleichsam im Naturzustand, das heißt ohne die Hilfe von Kategorien und allgemeinen Regeln, unter die wir unsere Erfahrung subsumieren konnten.« 159
    Das brachte sie schließlich zurück zu Kant, nicht nur, um ihn vor Eichmanns Vereinnahmung zu bewahren, sondern auch zur Entwicklung eines Verantwortungskonzepts, das die historische Situation erforderte, in der sich der bestehende Moral- und Rechtsrahmen als ungenügend erwiesen hatte. Es geht hier nicht um die Subsumtion des besonderen moralischen Urteils unter die allgemeine Regel, insbesondere nicht, wo nur das Besondere gegeben ist, für das die allgemeine Regel erst gefunden werden muss. Arendt schreibt: »Der Maßstab lässt sich nicht der Erfahrung entnehmen und kann nicht von außen hergeleitet werden.« 160 Man muss versuchen, experimentieren, ja man muss sich auf die Einbildungskraft verlassen, um über diese Zeit zu urteilen und um im Namen des gemeinsamen menschlichen Lebens zu urteilen, das jedem Individualismus und Kollektivismus gleichermaßen irreduzibel zugrunde liegt. Arendt positioniert sich genau hier, im Zwischenraum, als »Ich« und »Wir« gleichzeitig, und entwickelt die Normen, nach denen wir urteilen können, indem sie auf strittige, antagonistische und ambivalente Weise das Tribunal heraufbeschwört, in dem sie selbst Richterin ist.
    Aus diesem Grund denke ich, dass der Rückgriff auf den souveränen Geist, sein Urteilsvermögen, seine individuelle Freiheitsausübung, in einem recht deutlichen Spannungsverhältnis zur Idee der Kohabitation steht, wie sie sich sowohl aus Arendts Beschuldigung Eichmanns als auch aus ihren eigenen Reflexionen zur Pluralität zu ergeben scheint. Dieser Begriff der Kohabitation bietet ein Präjudiz für ein Völkerrecht, das nicht ausschließlich auf Rechten der Staatsbürger basiert, sondern sich

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