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Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition)

Titel: Am Scheideweg: Judentum und die Kritik am Zionismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Butler
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die zum ersten Mal und ohne starke internationale Unterstützung ihren eigenen Nationalstaat verwirklichen wollen? Ich würde vorschlagen, in dieser drängenden Frage zunächst einen Moment lang nicht nur darüber nachzudenken, ob man alle Nationalismen auf eine Stufe stellen kann (was man gewiss nicht kann), sondern was wir überhaupt unter »Nation« verstehen. Denn als allererstes nehmen wir ja an, dass eine Nation eine räumliche und zeitliche Vereinigung ist, die militärisch abzusichernde Grenzen und Formen der demokratischen Selbstverwaltung sowie ein souveränes Territorium und souveräne Rechte besitzt. Für Palästina kann es gewiss kaum etwas Wichtigeres geben, als seine berechtigten Landansprüche geltend zu machen, aber dieses Recht impliziert noch nicht unmittelbar eine bestimmte Form des Nationalstaates. Man könnte dieses Recht auf völkerrechtlicher Basis oder auf moralischer und politischer Grundlage formulieren, ohne unbedingt eine spezifische Form des Nationalstaates im Blick zu haben. Das Recht auf Land kann sehr gut in der historischen Analyse illegaler Landenteignungen im Zuge der Gründung und Selbstlegitimierung des israelischen Nationalstaates begründet werden. Israel gründet auf der Basis zahlreicher Beschlagnahmungen von Land vor 1948 und bis 1967, die heute mit dem Siedlungsausbau, dem Bau und Umbau des Grenzzauns und der andauernden strategischen Erweiterung der Grenzen durch die willkürliche Verlagerung von Kontrollpunkten fortgesetzt werden. Aber selbst wenn wir davon ausgehen, dass es den Staat Israel ohne die Praxis der rechtswidrigen Landnahme nicht gäbe – und meiner Ansicht nach müssen wir davon ausgehen –, stehen wir immer noch vor zwei Tatsachen, die uns zu der Frage zwingen, wie wir die Nation Palästina verstehen wollen und und wie diese Nation genau aussehen sollte.
    Der erste Punkt ist der, dass die Palästinenser, die 1948 ihr Land und ihre Häuser verloren und gewaltsam vertrieben wurden, in der Diaspora und überwiegend zerstreut an verschiedenen Orten leben, und zwar außerhalb des Landes, das historisch Palästina ist. Die Geschichte der palästinensischen Diaspora beginnt effektiv mit den Ereignissen von 1948. 189 Das Rückkehrrecht für diejenigen, die sich nach der Vertreibung der palästinensischen Diaspora anschlossen, bleibt für jedes Verständnis der palästinensischen Nation entscheidend. 190 So gesehen ist die Nation zum Teil zerstreut und müssen die Rechte der gewaltsam Vertriebenen berücksichtigt werden. Historisch betrachtet ist die Nation Palästina also nicht an bestehende, vereinbarte Grenzen gebunden; das bedeutet nicht nur, dass sich Rechte und Pflichten über bestehende Grenzen hinaus erstrecken, sondern dass bestehende Grenzen Resultat rechtswidriger Landenteignungen sind. Die Anerkennung dieser Grenzen als Grenzen des Nationalstaates würde also die Ratifizierung und Bestätigung dieses Rechtsbruchs als akzeptable Grundlage der Nation bedeuten, eines Rechtsbruchs, der nicht nur am Ursprung eines Nationalstaates steht, sondern sich in dessen Selbsterhalt immer weiter fortsetzt. Die Anerkennung der derzeitigen Grenzen (wie auch immer sie später einmal verlaufen mögen) bedeutet effektiv, von den Landenteignungen und Zwangsvertreibungen als Fragen einer entstehenden palästinensischen Nation abzusehen. Jede auf diesen Grundlagen errichtete Nation basiert auf der Verleugnung von 1948, fördert diese Verleugnung und verschließt die Augen vor der anhaltenden Vertreibung der in der Diaspora lebenden Palästinenser.
    Für das Rückkehrrecht der Palästinenser sind mehrere Formen denkbar. Vorgeschlagen wurden Wiederansiedelungspläne (die Israelis sind sehr gut im Siedlungsbau, sodass sich dieses Talent vielleicht auch zur Errichtung palästinensischer Häuser auf deren rechtmäßigem Land einsetzen ließe). 191 Vorgeschlagen wurden auch Ausgleichszahlungen und Formen der öffentlichen und völkerrechtlichen Anerkennung. In einer Zeit, in der selbst die Arbeit der Organisation Zochrot zum Gedenken an die Dezimierung palästinensischer Dörfer im Jahr 1948 am sogenannten Israelischen Unabhängigkeitstag verboten ist und in der die Tätigkeit dieser Organisation des Verrats bezichtigt wird, ist die Frage der öffentlichen Anerkennung der Zerstörungen und Enteignungen von 1948 mehr als bloß symbolischer Art, und wenn sie symbolisch ist, dann ist dieses Symbol jedenfalls ein sehr starkes. 192 DasRückkehrrecht wird darüber hinaus durch

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